Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
das hier endlich passierte. Widukind war ein überaus erfahrener Liebhaber, hatte Dragomira mit einiger Verwunderung – und nicht ohne Eifersucht – festgestellt, und er tat Dinge mit Händen und Zunge, die sie sich nie hätte träumen lassen. Und als sie glaubte, ihr ganzer Körper sei mit Glut überzogen, die sie verzehrte, ohne sie zu verbrennen, hatte Widukind sie in die Kissen hinabgedrückt und sie genommen, nicht roh, aber hart und fordernd. Dragomira hatte natürlich genau gewusst, was er tat. Dass er immer noch glaubte, er müsse ihr Otto austreiben. Sie hatte ihn gelassen, und er hatte ihr Wonnen bereitet, an die sie nicht denken konnte, ohne ihn auf der Stelle wieder in sich haben zu wollen.
Doch jetzt war Widukind fort, war zu einer Mission durch feindliches Gebiet aufgebrochen, begleitet von einer viel zu kleinen Eskorte, und die größte Gefahr lauerte am Ziel seiner Reise. So kam es, dass Dragomira das Schicksal der meisten Frauen teilte: Sie hatte ihren Mann ziehen lassen müssen, ohne zu wissen, ob sie ihn je wiedersehen würde.
»Lass uns hoffen, dass er in einem Stück zurückkehrt und dein Vater uns nicht nur seine Zunge oder Gott weiß was schickt«, erwiderte sie.
Alveradis hatte offenbar keine Mühe, zu durchschauen, dass ihre Schwägerin hinter dem Spott ihre Furcht zu verbergen suchte. Sie schüttelte langsam den Kopf. »Noch vor einem Jahr hätte ich gesagt, mein Vater würde niemals Hand an einen Gottesmann legen. Aber ich hätte ebenso gesagt, dass er niemals die Gesetze der Gastfreundschaft brechen würde. Ich habe meinen Vater nie begreifen können, aber inzwischen kommt es mir so vor, als wäre er ein vollkommen Fremder hinter einer finsteren Maske.«
Trotz der Sommerhitze fröstelte Dragomira.
Brandenburg, August 939
»Schau in den Spiegel und du wirst sehen.«
»Du hast dir viel Zeit gelassen. Ich fing an zu hoffen, du hättest mich für immer verlassen.«
Sie lachte und strich sich das magische Haar aus der Stirn, das im grün betupften Schattenspiel der Sonne zwischen den alten Buchen wie ein Irrlicht leuchtete. »Und warum sollte ich dich verlassen?«
»Weil du meiner überdrüssig bist? Weil ich den alten Göttern nicht mehr huldige? Oder weil ich meine Hände mit dem Blut meiner eigenen Sippe besudelt habe – was weiß ich.«
»Ein Grund törichter als der andere. Du bist und bleibst ein Tor, Tugomir. Ich weiß, du sehnst dich danach, mich sagen zu hören, dass es ein Unfall war, aber du hast bei Dragomirs Tod genau das Gleiche gedacht wie bei Boliluts: kein großer Verlust.«
»Das stimmt nicht. Ich habe um Bolilut getrauert. Daran erinnere ich mich. Und ich habe um den Jungen getrauert, der Dragomir war, ehe Tuglo ihn vergiftet hat.«
»Weil es deiner lächerlichen, kleinen menschlichen Vorstellung von Ehre widersprochen hätte, aufrichtig zu sein und dir deine Erleichterung einzugestehen.«
Er stierte in das Wasser des kleinen Sees, den einer der ungezählten Zuflüsse der Havel hier bildete, aber die Oberfläche kräuselte sich im Wind und zeigte ihm keine Bilder. »Verfluchen mich die alten Götter, weil ich Dragomir erschlagen habe – unbeabsichtigt oder nicht?«
»Oh, aber gewiss doch«, versicherte sie. »Du weißt doch, wie sie sind. Das braucht dich indessen nicht mehr zu bekümmern, richtig? Bist du doch überzeugt davon, dass dein neuer Gott mächtiger ist als sie.«
»Auf jeden Fall ist er barmherziger, denn er vergibt denen, die ihre Taten bereuen.«
»Aber auch seine Vergebung hat ihren Preis, nehme ich an. Nun, wie der Zufall es will, wirst du bald Gelegenheit haben, herauszufinden, ob er dir noch gnädig ist oder nicht.«
»Dann erspar mir deinen Hohn und zeig mir, was du so unbedingt loswerden willst. Wo ist Widukind? Was hält ihn so lange auf? Lebt er noch?«
»Schau«, befahl die Vila.
Der Wind in den Blättern verstummte, und die Wasseroberfläche beruhigte sich. Während sie sich glättete, stiegen Bilder aus der grünen Tiefe auf, doch es waren weder Widukind noch Gero oder die Burg in Meißen, die Tugomir sah. Stattdessen wurde er Zeuge einer Szene, die er zuerst überhaupt nicht verstand: Es war dunkel, und im flackernden Licht eines Feuers standen vielleicht ein Dutzend Männer zusammen und stritten. Es waren obodritische Krieger, aber sie trugen keine Waffen. Und sie waren gefesselt. Als er das erkannte, begriff er endlich, was er sah: »Es ist die Nacht vor der Hinrichtung der Gefangenen von Lenzen«, murmelte er. »Du
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