Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
vor Furcht. Das war nicht gut für ihr Kind, nahm sie an, aber sie konnte nichts dagegen tun. Und sie begann sich zu fragen, ob sie überhaupt lange genug leben würde, um dieses Kind zu gebären. Hatte Mathildis den Männern befohlen, sie in ein abgelegenes Waldstück zu schaffen und ihr dort die Kehle durchzuschneiden? Nein, entschied sie. Dazu hätte es keiner fünf Männer bedurft. Und dazu hätten sie Mirnia nicht mitgenommen. Also was dann?
»Wohin reiten wir, Udo?«, fragte sie noch einmal. »Was spricht dagegen, es mir zu sagen?«
Er rang noch einen Moment mit sich. Dann antwortete er: »Das hier ist der Hellweg. Er führt ein Stück nach Süden, dann nach Westen. Wir folgen ihm vier oder fünf Tage.«
»So weit ? Und wo sind wir nach vier oder fünf Tagen?«
»Noch nicht am Ziel. Aber mehr darf ich dir nicht sagen, Mädchen. Also hör auf, mich mit deinen Fragen zu bedrängen, es sei denn, du willst ein paar Ohrfeigen.«
Noch nicht am Ziel . Nach einer Reise von vier oder fünf Tagen noch nicht am Ziel. Plötzlich hatte sie das Gefühl, statt eines Kindes ein Stück glühender Holzkohle unter dem Herzen zu tragen. »Ich werde den Prinzen nie wiedersehen«, murmelte sie. »Und meinen Bruder auch nicht.«
Udo antwortete nicht.
Sie ritten zwei oder drei Stunden durch die mondhelle Nacht, bis Udo schließlich befahl, das Lager aufzuschlagen. Der Hellweg war eine viel benutzte Handelsstraße, die unter dem Schutz des Königs stand. In Abständen von einer Tagesreise säumten Burgen, Dörfer oder gar Städte diesen Weg, um Reisenden Schutz zu gewähren, aber da fünf gerüstete finstere Gesellen mit Schwertern, die obendrein nur zwei Frauen und keine kostbare Fracht begleiteten, keine Wegelagerer fürchten mussten, banden sie die Pferde und den Esel einfach an einen Apfelbaum am Wegrand und legten sich in ihre Decken gerollt ins Gras. Zwei Mann hielten Wache, die drei übrigen schliefen rasch ein und schnarchten, dass die Erde davon zu erbeben schien.
Mirnia hatte sich neben Dragomira gelegt. »Wo bringen sie uns hin?« Es klang nicht ängstlich. Mirnia, eine zwölfjährige Töpfertochter, begegnete dem Leben mit Gleichgültigkeit, seit sie zugesehen hatte, wie Gero, Udo und die anderen ihre Eltern und ihre große Schwester umgebracht hatten.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Dragomira.
»Warum verstößt dein Prinz dich? Wo du doch vielleicht seinen Sohn trägst?«
»Ich weiß es nicht, Mirnia«, musste Dragomira wiederum eingestehen. Sie legte einen Arm über die Augen, um das Mondlicht auszusperren. »Ich kann diese Sachsen einfach nicht verstehen.«
Die Schwüle hielt an, und für Dragomira waren die vier Tage im Sattel und vier Nächte auf der harten Erde so beschwerlich, dass sie sich vor Müdigkeit wie betäubt fühlte. Trotzdem fand sie nachts kaum Schlaf, weil ihr Rücken so schmerzte, das Kind unruhig war und vor allem, weil die Angst um ihren Bruder und ihre eigene Zukunft sie quälte. Mit jeder Meile, die sie sich von Magdeburg entfernten, nahm ihre Düsternis zu, und sie hatte keinen Blick für die atemberaubende Schönheit des Harzes, dessen nördliche Ausläufer sie durchquerten.
Udo war unwirsch, aber auf seine ungehobelte Art seltsam höflich zu ihr und nahm sogar Rücksicht auf ihre fortgeschrittene Schwangerschaft. Doch sobald sie ihn bat, ihr zu sagen, wohin er sie bringe und was Gero mit Tugomir vorhabe, wurde er ausweichend; wenn sie hartnäckig blieb, schroff. Also musste sie in ihrer Ungewissheit verharren. Sie wusste, sie durfte nicht riskieren, Udo gegen sich aufzubringen, um ihretwillen, vor allem aber um Mirnias willen. Dragomira war nicht entgangen, mit welchen Blicken Udos Männer das Daleminzermädchen verfolgten. Und allein Udos Verbot war es geschuldet, dass die Halunken sie zufriedenließen.
Bis sie am fünften Tag die Weser erreichten und einen Flusskahn bestiegen, der sie stromabwärts brachte.
Es war heiß unter der brennenden Sonne. Kein Windhauch war zu spüren, die Luft selbst auf dem Fluss drückend und schwül. Mit fünf Passagieren und Reittieren und den Wollvliesen, die der Kahn transportierte, war es unangenehm eng an Bord. Der Flussschiffer war ein einfältiger junger Bursche mit einer ebenso einfältigen, hübschen Frau. Vor einer Woche habe er sie geheiratet, berichtete er Udo stolz, und er konnte einfach nicht die Finger von ihr lassen, zwickte sie ins Hinterteil und tätschelte ihre Brust, wann immer sie in Reichweite war. Sie kicherten und
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