Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
sie achtgeben als der tumbe Bengel, den sie vorher hatte. Und ob sie nun für einen oder für zwei Kerle die Beine breit macht, ist doch irgendwie egal, oder?«
Es ist bestimmt nicht das Leben, das ich will , lag Dragomira auf der Zunge, aber sie sprach es nicht aus. Frauen bekamen nie das Leben, das sie wollten, das war bei Hevellern und Sachsen gleich. »Sag mir, wo du uns hinbringst, Udo«, bat sie ihn zum wohl hundertsten Mal. »Ist es das, was mich erwartet? Ein Leben in den Händen irgendeines Wildfremden, der mich zufällig gebrauchen kann? Oder mehrerer?«
Er schnaubte, dann ruckte er das Kinn nach rechts. »Da. Wir sind fast am Ziel. Und besonders viele Kerle wirst du in Zukunft nicht mehr zu sehen kriegen, glaub mir.«
Ein hölzerner Anlegesteg lag parallel zum Ufer. Lothar sprang behände von Bord und vertäute den Kahn.
Udo steckte sein Schwert ein, setzte den Helm auf und machte sich sogar die Mühe, seinen Umhang glattzustreichen. »Bring die Kleine auf die Füße und dann komm, Prinzessin.«
Mirnia wirkte ängstlich und verwirrt, als Dragomira sie weckte. Mit fahrigen Bewegungen zog sie sich das schmuddelige Kleid über, das Udo der Witwe des Schiffers abgekauft hatte, nahm die Hand, die Dragomira ihr reichte, und ließ sich an Land führen. Sie sah keinen der Soldaten an, sondern hielt den Kopf gesenkt, als hoffe sie, so könne der Bluterguss unbemerkt bleiben, der ihren Mund umgab.
Ein gut erkennbarer Weg – zwei Radspuren mit einer Grasnarbe in der Mitte – führte zwischen gemähten Wiesen entlang, und sie folgten ihm, bis sie zu einem mächtigen Tor in einer hohen Steinmauer gelangten, das ehern und abweisend wirkte. Udo donnerte mit dem Schwertknauf an einen der Torflügel, und nach wenigen Augenblicken öffnete sich ein Kläppchen in Augenhöhe.
Ein runzliges, von einem hellen Schleier umrahmtes Gesicht erschien. »Ihr wünscht?«, fragte die alte Dame streng.
»Wir kommen aus Magdeburg, Schwester, und möchten zu Eurer Mutter Oberin«, antwortete Udo so zahm und unterwürfig, dass Dragomira seine Stimme kaum erkannte. Er zog ein Schriftstück unter dem Gewand hervor und hielt das Siegel vor das Kläppchen.
Ohne ein weiteres Wort wurde ihnen aufgetan.
Im Innern der Einfriedung erhob sich einer dieser Tempel, die die Sachsen Kirchen nannten. In seinem Schatten stand ein halbes Dutzend strohgedeckter Holzhäuser.
Die strenge Pförtnerin führte sie zu dem größten Gebäude neben dem Tempel, klopfte und trat dann respektvoll einen Schritt zurück.
Nach wenigen Augenblicken öffnete sich quietschend die Tür und eine äußerst gepflegte Dame in einem dunklen Kleid, deren Gesicht ebenfalls von einem weißen Schleier umrahmt war, trat zu ihnen in den Sonnenschein. »Sei willkommen im Kanonissenstift Möllenbeck, mein Kind. Wir haben dich bereits erwartet.« Ihr geruhsamer Blick glitt von Dragomiras Gesicht abwärts zu ihrem Bauch, dann weiter zu Mirnia, und Dragomira hatte das eigenartige Gefühl, dass diese Frau augenblicklich alles wusste und alles verstand. »Mein Name ist Hilda von Kreuztal, und ich bin die Oberin dieses Hauses«, fuhr sie fort. Ihre Miene änderte sich nicht, als sie den Blick auf Udo richtete, doch sie sagte deutlich kühler: »Ich denke, es ist besser, du kommst nicht mit hinein.« Sie nahm das versiegelte Schriftstück, das er ihr mit einer Verbeugung reichte, und drückte ihm ihrerseits eines in die Finger, das ganz genauso aussah. »Für die Königin. Mit meinen besten Empfehlungen. Und nun geh mit Gott.« Besitzergreifend zog sie ihre Besucherinnen über die Schwelle, und Dragomira hatte gerade noch Zeit, Udo ein »Hab Dank« zuzuraunen, ehe die Tür sich schloss.
Im dämmrigen Halbdunkel des leeren Refektoriums legte Hilda von Kreuztal ihren beiden Neuzugängen segnend die Hände auf den Kopf und sagte: »Jetzt hat der Schrecken ein Ende. Ihr seid in Sicherheit.«
Magdeburg, September 929
»Sieh mal, Tugomir. Ist es so richtig?« Semela hielt ihm den Mörser zur Begutachtung hin.
Tugomir nahm ein wenig von dem Pflanzenbrei zwischen Daumen und Mittelfinger und zerrieb ihn prüfend. »Gut gemacht«, befand er. Er wusste, dass es harte Arbeit war, frische Blätter zu zerstoßen. Für einen ungeduldigen Bengel wie Semela keine leichte Aufgabe, aber der Junge hatte sie mit Bravour gemeistert.
»Und jetzt?«, fragte er eifrig.
»Streiche ich die zerstoßenen Holunderblätter auf die Brandwunden und binde ein Tuch darum, genau wie in den vergangenen Tagen.
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