Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
in ein Kloster gebracht wird, ohne dass irgendwer weiß, wer er ist. Aber dies ist mein Sohn. Ich möchte ihn in meiner Nähe haben, und er soll bei Hofe aufwachsen. Also, was sagst du, Prinz Tugomir? Wirst du diese Aufgabe übernehmen und gemeinsam mit Bruder Waldered der Erzieher meines Sohnes sein? Denn er soll auch von seinem slawischen Erbe erfahren und es niemals verleugnen. Das wäre nicht recht, meine ich.«
Tugomir gab ihm das Kind zurück. Er brachte keinen Ton heraus, darum forderte er Udo mit einem matten Wink auf, ihn endlich in die Sakristei zu sperren. Denn er hatte den Verdacht, dass er heute Nacht vielleicht tatsächlich einen Ort brauchte, wo er unbeobachtet ein paar Tränen vergießen konnte.
ZWEITER TEIL
935–938
Möllenbeck, Oktober 935
»Qui convertit mare in aridam, in flumine pertransibunt pede« , murmelte Dragomira vor sich hin und strich sich versonnen mit dem stumpfen Ende des Kohlestifts über den Handballen. Sie merkte nicht, dass sie dort dunkle Striche hinterließ.
»Was?«, fragte Schwester Jutta zerstreut, die dabei war, die Binsenlichter auf den Stehpulten des Scriptoriums zu löschen.
»Er wandelt das Meer in trockenes Land, sie schreiten zu Fuß durch den Strom« , wiederholte Dragomira auf Deutsch.
Jutta nickte. »Psalm sechsundsechzig.«
»Er meint die Teilung des Roten Meeres, oder? Beim Auszug aus Ägypten?«, vergewisserte Dragomira sich, denn die Psalmen waren und blieben ihr rätselhaft.
Die ältere Stiftsdame trat zu ihr. »Ja, ich würde sagen, das ist ausnahmsweise einmal ziemlich eindeutig. Und jetzt komm, Schwester. Es wird Zeit.«
»Ja, gleich.« Dragomira betrachtete die Pergamentseite mit den ersten sechs Versen des Psalms. Darunter hatte die Schreiberin viel Platz gelassen. Für sie. Damit sie diesen Platz mit einem Bild ausfüllte, dessen Pracht und Schönheit den Betrachter in ebensolches Entzücken versetzen sollten wie die frommen Worte. Denn das konnte sie besser als jede andere der Schwestern hier. Und das war nur eine Seite an sich, die Dragomira erst hier entdeckt hatte.
Bedächtig, aber ohne Zaudern setzte sie den Kohlestift an, und mit wenigen feinen Strichen fertigte sie ihren Vorentwurf: Moses mit ausgebreiteten Armen, das aufgewühlte Meer, das sich links und rechts zu einer Mauer türmte und eine Gasse öffnete, das staunende Volk Israel, welches den Weg in die Freiheit erblickte.
Schwester Jutta zog scharf die Luft ein. »Wie machst du das nur immer?«, fragte sie. »Das wird wunderbar. Oh, Königin Mathildis wird so begeistert sein von ihrem neuen Psalter!«
Solange ihr niemand erzählt, wer ihn bebildert hat , dachte Dragomira.
»Vielleicht kommt sie uns eines Tages sogar besuchen, um sich zu bedanken«, fuhr Jutta träumerisch fort.
Dragomira sah stirnrunzelnd von ihrer Zeichnung auf. »Darauf lege ich offen gestanden keinen großen Wert.« Sie richtete sich auf, ließ die Schultern kreisen und unterdrückte ein Stöhnen. »Ich glaube, du hast recht. Für heute ist es genug.«
»Wir sind wieder einmal die Letzten.«
Dragomira nickte. »Geh nur vor. Ich wasche nur noch eben die Pinsel aus.«
Jutta legte ihr freundschaftlich die Hand auf den Arm und wandte sich dann ab. Dragomira blieb allein im Scriptorium zurück, einem länglichen Raum innerhalb der Bibliothek, die aus Stein erbaut war, damit die kostbare und stetig wachsende Büchersammlung des Kanonissenstifts zu Möllenbeck nicht Gefahr lief, ein Raub der Flammen zu werden. Kaum eine der Schwestern hatte je zuvor ein Steinhaus gesehen, aber die Mutter Oberin hatte dennoch eines bauen lassen. Hilda von Kreuztal hatte keine Furcht vor neuen Ideen, der Herr sei gepriesen …
Die kleinen Rundbogenfenster waren mit Holzläden verschlossen, um die neblige Herbstkälte auszusperren, und das Scriptorium war dämmrig. Dragomira trug ihre Pinsel in der linken, das Licht in der rechten Hand zu dem Wassereimer an der Wand. Sie stellte das Öllämpchen auf einen Schemel, und als sie sich über den Eimer beugte, erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild: ein junges Frauengesicht mit großen, dunklen Augen. Gar kein übles Gesicht, fand sie, auch wenn der weiße Schleier, der es umrahmte und das Haar bedeckte, ihm eine Strenge und Würde verlieh, die Dragomira kaum mit ihrer Persönlichkeit in Einklang bringen konnte.
Sie dachte an die Nacht, als die Brandenburg gefallen war und ihr jüngeres Selbst sich für Prinz Otto geschmückt und im Spiegel betrachtet hatte. Über sechs Jahre
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