Das Haus am Abgrund
Zeitungsauschnitten und Notizzetteln und wusste nach einer halben Stunde nicht mehr, wonach ich eigentlich suchte. Mir brummte der Schädel. Ich schob alles zusammen auf einen großen Berg, betrachtete missmutig die kleine Handvoll, die ich als Auswahl schon neben meinen Rucksack gelegt hatte, und kratzte mir über den Kopf und die Arme. Wenn der Typ hier keine Flöhe und sonst was an Ungeziefer hatte, dann wollte ich nicht mehr Adrian heißen.
Ich nahm meine Beute auf. Ein kleines, schwarzes Notizbuch, das in einer winzigen Schrift eng beschriebene Blätter enthielt. Ein größeres, rot eingebundenes Buch, sicher das Tagebuch eines Mädchens. Die runde, großzügige Schrift sprach dafür. Ein Stapel Briefe. Ein dünner Ordner mit Ausschnitten, die über Heathcote Manor und einen Mord berichteten, der in den späten Sechzigern dort geschehen war. Noch ein Notizbuch, das zu großen Teilen durch Wassereinwirkung beinahe unleserlich ge w orden war, aber auf einer der noch unversehrten Seiten waren mir Worte ins Auge gesprungen, die mich neugierig machten. Winterkind ... Ein vergilbter Zeitungsbericht, der mit »Vorfälle im Kutscherhaus« übertitelt war. Ich legte ihn ungelesen beiseite und wühlte ziellos weiter in dem großen Haufen Papier herum. Es war zwecklos. Allein würde ich nie zwischen wichtigen Dokumenten und sinnlosem Geschreibsel unterscheiden können. Ich ging zur Tür und öffnete sie. Der Regen hatte aufgehört, es roch frisch und sauber und ich nahm einige tiefe Atemzüge. »Mr Skegg«, rief ich, »könnten Sie mir helfen?«
Er saß draußen vor dem Schuppen auf einer umgedrehten Heringstonne und hatte ein seliges Grinsen auf dem Gesicht. Der Gin tat seine Wirkung. Ich ging zu ihm hin. »Können Sie mir helfen, Mr Skegg? Ich finde mich in Ihren – äh – Aufzeichnungen nicht zurecht.«
Er drehte mir sein Gesicht zu und lächelte mich verschwommen an. »Was willst du wissen? Los, der alte Milton ist gerade in Erzählstimmung.«
Das konnte ich mir schlecht entgehen lassen. Ich suchte mir ein halbwegs trockenes Plätzchen und hockte mich hin. Er grinste mich breit an, stellte die Flasche ab und kramte in seiner Tasche. Es knisterte, dann zog er ein Päckchen Tabak heraus und begann, eine Zigarette zu drehen. »Was willst du wissen? Warum interessierst du dich überhaupt für das Haus?« Er steckte die Selbstgedrehte an und inhalierte tief.
»Ich wohne im ...« Ich unterbrach mich und schüttelte den Kopf. Es hatte nichts damit zu tun, dass wir im Kutscherhaus wohnten. Gar nichts. »Ich weiß es nicht. Heathcote Manor verfolgt mich.«
E r sah mich starr an, die Zigarette glühte zwischen seinen gelben Fingern. »Verfolgt dich.«
Ich hob die Schultern. »Klingt irre, ich weiß.«
Er schüttelte langsam den Kopf, weniger eine Verneinung als eine Geste, die böse Geister vertreiben sollte. »Du auch«, sagte er und seufzte. Er zog erneut an der Zigarette. »Das Haus ist der Fluch dieses Ortes«, fuhr er fort. »Schon seit Jahrhunderten. Manchmal ist es ruhig, dann vergessen die Dorfbewohner, was da mitten in ihrem friedlichen, schafsdämlichen Leben lauert: der große, böse Wolf!« Er mähte und grollte, hustete und lachte gleichzeitig, zog an seiner Zigarette, stieß den Rauch aus und fuhr fort: »Ich war so bescheuert. Begann mich damals damit zu beschäftigen, als ein Kind aus dem Dorf verschwand. Alles deutete auf einen ganz normalen Badeunfall hin. Oder vielleicht auch auf einen Sexualmord, obwohl das hier in der Gegend nicht allzu häufig passiert. Irgendwann hat die Polizei die Ermittlungen eingestellt, das Mädchen war und blieb verschwunden. Aber ich bin im Archiv in Truro auf alte Berichte aus der Gegend gestoßen.«
Ich hörte gebannt zu, wie Skegg eine unglaubliche Story zu erzählen begann. Anscheinend verschwanden schon seit Generationen immer wieder Kinder aus dem Dorf, und zwar spurlos. Das Seltsame daran: Es schien niemanden wirklich aufzuregen. Keiner sagte: »He, was ist hier los, wohin verschwinden all diese Kinder?« Klar, es lagen jeweils ein Haufen Jahre dazwischen, aber trotzdem ...
Skegg war der eine, der »He« sagte. Er zog los und begann zu fragen, zu suchen, zu recherchieren. Und er stieß auf Widerstand. Es war, als wollte das Dorf dieses Geheimnis für sich b ewahren. Es war nicht so, dass jemand ihn dafür bedrohte oder ihm offen ins Gesicht sagte, er solle seine Nase nicht in diese Angelegenheit stecken. Aber man begann ihn zu meiden. Türen wurden vor seiner Nase
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