Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
ihre Biografie, wie sie jeden ihrer Einträge begann: Ich bin’s, Jess!
»Keine Ahnung«, sagte ich, ohne Lucas anzusehen. Und das stimmte. Ich hatte keine Ahnung, wo Jess war und was sie tat. Ich hatte meine Mutter gebeten, Jess mir gegenüber nicht mehr zu erwähnen. Schließlich hatte Mum, wenn auch widerstrebend, eingewilligt.
Lucas stellte keine weiteren Fragen. Ein Grund mehr, ihn zu lieben. Eine Tante wäre in mich gedrungen, wie meine Mutter, wie so viele Male. Ella, ich bitte dich, Jess ist deine kleine Schwester. Deine Familie. Du musst ihr irgendwie verzeihen. Du musst das hinter dir lassen.
Aber wie sollte ich das hinter mir lassen? Und wohin sollte ich mich wenden?
Nach einem Menschen hatte Lucas sich noch nicht erkundigt. Als ich den Tee an den Tisch brachte, wartete ich darauf, dass Aidans Name fiel. Doch das geschah nicht. Noch nicht. Denn das würde es. Aidans Präsenz war nahezu greifbar. Hier in der Küche waren wir uns zum ersten Mal begegnet.
Lucas trank einen Schluck, verzog das Gesicht und stellte die Tasse ab. »Ella, das ist widerlich. Die Tasse ist zu sauber.«
Ich tätschelte ihm liebevoll den Arm, dankbar, dass Lucas das Thema gewechselt hatte. Unser Gespräch wandte sich Harmlosem zu, meinem Flug, dem Wetter, Lucas’ Arbeit. Ja, er hatte viel zu tun, wie immer. Ja, das Haus war wie immer voller Studenten. Im Moment waren es vier, doch es gab eine Warteliste. Ja, sie arbeiteten alle zweifach: am Tag als Doktoranden, am Abend als Nachhilfelehrer. Das Wachsen und Werden von vier Genies.
Es gab, so erzählte Lucas, im Haus eine Studentin der Literatur. »Sie wird dir gefallen. Ein ausgesprochen fröhliches Mädchen. Mit einer sehr erstaunlichen Frisur. In der einen Woche leuchtend pink, in der nächsten blau. Ihr habt vieles gemein, die Freude an Büchern, Wörtern, Grammatik …«
Das war nicht der richtige Zeitpunkt, ihm zu sagen, dass ich die Arbeit an Texten aufgegeben hatte. »Klingt großartig«, erwiderte ich.
»Und du, Ella? Weißt du schon, was du tun willst?«
Dass ich gerade einen langen Flug hinter mir hatte, spielte keine Rolle. Lucas kam gleich zur Sache. Auch das liebte ich an ihm. »Nein, noch nicht. Aber ich will morgen zu ein paar Zeitarbeitsagenturen gehen.«
»Tu es nicht.«
»Nicht?«
»Arbeite wieder für mich. Du weißt, ich zahle gut. Und zeitig.«
»Du brauchst mir nichts zu zahlen. Sobald meine Tasse leer ist, werde ich dieses Haus schrubben, und zwar von unten bis oben. Das ist ein Dienst an der Menschheit.«
Er lächelte. »So eine Arbeit hatte ich nicht im Sinn. Deshalb habe ich dich nicht zu mir gebeten.« Er stand auf und schloss die Tür. Als er sich wieder an den Tisch setzte, wirkte er sehr ernst. »Ella, ich brauche deine Hilfe.«
Kapitel 2
Von: Charlie Baum
An: Verborgene Empfänger
Betreff: Es war eine unruhige Woche in Boston
Hier der wöchentliche Bericht aus den Schützengräben der Familie Baum:
Sophie,10: Plant die Feier zu ihrem elften Geburtstag. Und plant und plant. Die Gästeliste wurde schon zwanzig Mal geändert. Sie hat mehr Spaß als jeder Türsteher vor einem angesagten Club.
Ed, 8: Mathe-Hausaufgaben. Gestern Abend zählt er bis 100, dann bis 200 und dann immer weiter. Bei 253 seufzt er. »Das Zählen hört nicht auf, oder?«
Reilly, 6: In der Schule wurde heute über die wichtigsten Feste der Weltreligionen gesprochen. Seine Lehrerin fragt, warum man Ostern feiert. Reillys Antwort: »Jesus ist doch an Ostern gestorben. Und er war an einem Kreuz. Und das Kreuz war aus Holz. Und das Holz war braun. Und Schokolade ist auch braun. Darum essen wir auch Schokolade. Und die Schokolade wird vom Osterhasen verteilt, und es gibt Schokohasen, weil Jesus oben am Kreuz war. Und am Boden sind überall Häschen rumgehoppelt. Ganz viele Häschen.«
Offenbar müssen Lucy und ich den Ansatz von religionsfreier Erziehung noch einmal überdenken.
Tim, 4: Badezeit. Schüttet Lucys Hennashampoo ins Wasser, die ganze Flasche, als ich ihm, für Sekunden nur, den Rücken zudrehe. Unser Sohn ist nun nicht nur sauber, sondern braun.
Lucy, 36: Erreicht neue Dimensionen der Überstundenzahlen. Erschöpft. Erschöpft, aber glücklich. Hoffe ich.
Charlie, 36: Momentanes Gewicht fünfundneunzig Kilo. Meine Diät bringt erstaunliche, wenn auch unsichtbare Resultate. Diese Woche auf dem Speiseplan für die Familie: Spaghetti Bolognese, Spaghetti Carbonara, Pizza, Boeuf bourguignon. Auf dem Speiseplan des Kochs: Salat, Salat, Salat, Salat.
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