Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
abgeschworen. »Ein Tee wäre schön.«
Wir gingen in die Küche. Sie war völlig verdreckt, überall stand schmutziges Geschirr – Pfannen, Teller … Ich hatte große Mühe, nicht zu reagieren, als Lucas zwei dreckige Tassen aus der vollen Spüle zog. Als er nach einem Milchkrug griff, an dem etwas Soßenartiges klebte, war es mit meiner Beherrschung vorbei.
»Entschuldige, Lucas.« Ich nahm ihm beide Tassen ab und spülte sie, dann die Kanne, gefolgt vom Kessel und zur Sicherheit noch der Spüle selbst. Lucas sah mir mit einem halben Lächeln zu. Es hatte ihn noch nie gekränkt, wenn ich meinen Widerwillen oder mein Erstaunen über den Dreck, in dem er und seine Studenten lebten, äußerte. Er setzte sich an den unordentlichen, schmutzigen Küchentisch – es juckte mir in den Fingern, auch dort rasch abzuwischen – und beobachtete mich. Amüsiert und liebevoll.
»Es ist so schön, dass du hier bist, Ella. Ich habe so dringend eine Magd gebraucht.«
»Dieses Haus braucht einen Bulldozer und keine Magd.«
»Da wir gerade davon sprechen, wie geht es deiner Mutter?«
»Sehr gut, danke.« Ich verkniff mir ein Lächeln, als mir in einer Dose, in der ich Kekse vermutete, schimmelige Krümel entgegenblickten.
»So verrückt wie immer, schätze ich?«
Ich nickte.
»Und auch so berühmt?«
»Sie wird mit jedem Tag berühmter.« Dem war wirklich so. Meine Mutter war sechs Jahre zuvor in einem Melbourner Shoppingcenter einem Fernsehteam in die Arme gelaufen, und nun war sie jedem australischen Haushalt ein Begriff. Walter war ihr Manager. Für mich war das immer noch unfasslich. Während meiner Kindheit hatte meine Mutter mit Not ein Ei gekocht. Nun war sie eine berühmte Fernsehköchin.
»Charlie klingt, als wäre er in Boston unverändert glücklich.«
Ich nickte wieder. Charlie. Zufriedener Hausmann, vierfacher Vater, liebender und geliebter Ehemann von Lucy, Vertriebsmitarbeiterin einer Pharmafirma. Er war ihr mit siebzehn begegnet, als er als Rotary-Austauschschüler in die USA gegangen war. Sie waren Brieffreunde geworden und hatten sich, als Lucy durch Australien reiste, mit Mitte zwanzig wiedergesehen. Sie hatten sich verliebt, geheiratet und auch gleich Kinder bekommen. Der Jüngste war vier Jahre alt, der Älteste fast elf. Lucy arbeitete Vollzeit, Charlie blieb zu Hause. Mit dieser Regelung waren beide glücklich.
»Ich liebe seine Berichte aus dem Familienleben«, sagte Lucas. »Danke, dass du mich auf die Mailingliste gesetzt hast. Die E-Mail über den Zahnarztbesuch der Kinder war die reinste Comedy.«
Ich wusste nichts zu erwidern. Ich las Charlies wöchentliche Mails nicht mehr. Natürlich waren wir noch in Kontakt. Wir mailten uns oft, doch wir wählten unsere Worte sorgfältig, und gewisse Themen vermieden wir ganz. Charlie erledigte all seine Kommunikation via Computer, spätabends, wenn die Kinder und Lucy im Bett waren. Die Berichte über sein Familienleben gingen nur an wenige Personen – an Walter, Mum und Jess, an Lucas und mich. Das Schreiben, hatte Charlie mir einmal gestanden, rettete ihn davor, den Verstand zu verlieren. Die E-Mails hatten immer die gleiche Betreffzeile, angelehnt an Garrison Keillors Anekdoten über Lake Wobegon. Die fiktiven Geschichten des berühmten Radiomoderators hatten immer den gleichen Auftakt: Es war eine ruhige Woche in Lake Wobegon. Charlies E-Mails begannen stets mit: Es war eine unruhige Woche in Boston . Mir fehlten seine Geschichten. Doch lesen konnte ich sie nicht mehr.
»Und Jess?«, fragte Lucas. »Wie geht es ihr?«
Ich erstarrte. Ich hatte gerade kochendes Wasser in die Kanne gegossen.
Lucas hatte meine Reaktion bestimmt gesehen. Er wartete einen Augenblick, dann wiederholte er die Frage.
Ich drehte mich um. »Lucas, es tut mir leid. Ich kann nicht …«
Er sprach unbeirrt und ruhig weiter. »Schreibt sie immer noch an ihrem Leben?«
Als Lucas das erfahren hatte, hatte es ihn sehr belustigt. Jess hatte vor sechs Jahren, mit sechzehn, mit ihrer Autobiografie begonnen – in Tagebuchform. Und in der festen Überzeugung, dass sie eines Tages ein berühmter Musicalstar würde. »Wenn ich erst einmal bekannt bin, habe ich zum Schreiben keine Zeit mehr, also fang ich lieber jetzt an«, hatte sie uns damals erklärt. Sie hatte auch nie ein Geheimnis um ihr Tagebuch gemacht. Andere Teenager versteckten es vermutlich. Jess hatte uns daraus vorgelesen. Sie schrieb, wie sie sprach, in einem unablässigen Bewusstseinsstrom. Heißen sollte
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