Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
Aber er hat heute Abend, in deiner Gegenwart, kaum gewagt, seine Kinder zu erwähnen. Ist dir das nicht aufgefallen? Wie lange willst du ihn dafür bestrafen, dass er vier Kinder, eine glückliche Familie hat?«
Ich traute meinen Ohren nicht. »Es ist erst zwanzig Monate her, Lucas. Noch nicht einmal zwei Jahre.«
»Es ist für uns alle zwanzig Monate her, Ella. Für uns alle. Aber du wirst dich bald entscheiden müssen, wie du dein restliches Leben leben willst. Ob du dich uns wieder öffnen willst oder weiterhin in deinem Gefängnis aus Trauer bleiben willst.«
Er legte mir eine Hand auf die Schulter und gab mir einen Kuss auf den Kopf. Er wirkte müde. Mehr als das. Er wirkte enttäuscht. Von mir.
»Geh ins Bett, Ella. Wir haben morgen sehr viel vor.«
Ich stieg wieder unter das Dach. Mir blieb die Luft weg. Ich setzte mich im Dunkeln auf die Matratze. Ich hatte Angst. Angst, dass Lucas mich aufgegeben hatte. Dass ich nicht die war, für die er mich gehalten hatte. Von allen Menschen auf der Welt wollte ich Lucas am allerwenigsten enttäuschen.
Du hast uns nicht um Felix trauern lassen.
Aber Felix war mein Sohn. Mein Baby.
Wir alle haben ihn geliebt, Ella.
Mir kam in den Sinn, was mir Henrietta in der Küche gesagt hatte.
Trauer ist ein ichbezogenes Gefühl.
Ich wollte nicht an Henrietta denken.
Ich hatte gedacht, ich könnte nur weiterleben, wenn ich mich von allen zurückzöge. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das noch mehr Schmerz bereiten würde.
Es war Zeit, wieder nach unten zu gehen. Mit Lucas zu sprechen, mich zu entschuldigen, ihn um Vergebung zu bitten. Was er gesagt hatte, gefiel mir überhaupt nicht, aber er hatte etwas Wahres ausgesprochen. Und wenn ich mein Leben lang geglaubt hatte, dass er auf meiner Seite war, musste ich es auch jetzt glauben.
Stimmte, was er über Charlie gesagt hatte? Ja. Ich hatte Charlie dafür bestraft, dass er vier Kinder hatte. Ich hatte ihn bestraft, indem ich sie missachtet hatte, obwohl ich wusste, dass sie alles für ihn waren. Er hatte kein einziges Wort darüber verloren. Er hatte mir auch weiterhin gemailt, mich aufgemuntert, mir zugehört, mich angerufen, mich liebevoll unterstützt, obwohl mein Verhalten so verletzend war.
Es musste so viel geschehen sein, bei ihm und seiner Familie, so viel, wovon ich nichts wusste, weil ich es nicht wissen wollte. Zwei Geschichten hatte ich vorhin gehört. Was aber war noch in den vergangenen zwanzig Monaten bei Lucy, Sophie, Ed, bei Reilly und Tim geschehen?
Das ließ sich herausfinden. Und zwar an Ort und Stelle.
Ich stand auf, machte meinen Laptop an und loggte mich in mein E-Mail-Account ein. Ich klickte auf den einen Ordner, in dem seit Monaten ungelesene E-Mails warteten. Charlies wöchentliche Updates. Ich nahm mir einen Stuhl, wickelte mich in eine Decke ein, öffnete die erste E-Mail und begann zu lesen.
Als ich fertig war, war es war fast zwei Uhr morgens. Ich ging leise nach unten. Bei Charlie brannte Licht. Ich hörte Stimmen. Das Radio? Ich klopfte sanft.
»Charlie? Bist du wach?«
Er antwortete. »Betreten auf eigene Gefahr.« Das hatte er als Kind immer gesagt.
Ich öffnete die Tür. Charlie saß auf dem Bett, seinen Laptop auf einem Kissen auf den Knien. Er lächelte. »Ich konnte nicht schlafen. Ich rede mit den Kids. Moment mal, Kinder. Da ist Tante Ella.«
Charlie winkte mich zu sich. Ich rührte mich nicht.
»Die arme Tante Ella ist ein bisschen schüchtern«, sprach er in die Kamera. »Ihr müsst sie zu euch locken wie ein scheues Tier, das ihr zähmen wollt.«
Ich hörte Stimmen. »Komm her, Ella! Hab keine Angst, Ella. Wir beißen nicht, Tante Ella. Ed vielleicht wohl, Sophie. Leg ihm lieber die Hand vor den Mund, zur Sicherheit.«
Charlie drehte seinen Laptop um, sodass die Kamera auf mich gerichtet war. Ich sah mich in einem kleinen Fenster am rechten Rand. In dem großen tummelten sich Charlies Kinder: Sophie, Ed, Reilly, Tim. Sie winkten mir zu und lächelten.
Sie waren noch viel schöner, als ich sie in Erinnerung hatte. Reilly und Ed waren kleine Lucys, blond und blauäugig. Auch Sophie war das Ebenbild ihrer Mutter, aber mit Charlies schwarzem Haar. Tim war ein Charlie im Miniaturformat – verschmitztes Grinsen, dicke Bäckchen.
Vor Felix’ Tod hatte ich mindestens einmal in der Woche mit ihnen gesprochen. Ich hatte mir Geschichten aus der Schule und Lieder für ihre Konzerte angehört, Bilder gelobt, die sie in die Kamera gehalten hatten. Sie hatten Felix über Skype
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