Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
kennengelernt. Ihn am Tag seiner Geburt gesehen. Sie hatten seinen ersten Zahn gesehen, in Nahaufnahme. Sie hatten zugesehen, wie er über den Fußboden gekrabbelt war. Sie hatten gesehen, wie er aß, und gelacht, als mehr im Gesicht als im Mund gelandet war. Sie hatten zugesehen, wie er seine ersten Schritte machte. Sie hatten ihm Strampelanzüge geschickt und gejubelt, wenn sie ihn damit auf dem Monitor gesehen hatten. Sie hatten ihm Lieder vorgesungen. Sie hatten nicht mehr aufgehört zu lachen, als Felix eines Nachmittags vor meinem Laptop gestanden und fünf Mal in Folge lauthals gerufen hatte: »Ich bin Felix O’Hanlon!«
Sie winkten, als hätten wir uns gerade erst gesprochen.
Ich ging näher. »Hi, Kids!«, rief ich.
»Schau mal, Ella!« Das war Ed. Er beugte sich vor, auf dem Monitor war nur noch sein Gesicht zu sehen, und lächelte. Zwei Schneidezähne fehlten. »Einer war schon locker, den anderen hab ich selbst gezogen. Das hat echt wehgetan.«
»Autsch«, sagte ich. »Hast du das der Zahnfee erzählt? Vielleicht bekommst du ja eine Gefahrenzulage.«
Ed lehnte sich zurück. Sophie zwinkerte mir zu. »Das ist eine tolle Idee, Ella. Ich helf ihm gleich mit dem Brief an die Zahnfee.« Das Wort Zahnfee betonte sie sehr wissend.
Reilly hielt ein Buch hoch. »Guck mal, was ich grade lese, Ella. Von hinten nach vorn. Ist zwar schwerer, aber dann weiß ich, wie’s ausgeht.«
»Das ist eine tolle Idee, Reilly. So erlebt man keine bösen Überraschungen. Und wie geht es dir, Tim?«, fragte ich. Ich wappnete mich innerlich für seinen Anblick. Tim, der Jüngste, kam Felix’ Alter am nächsten.
»Gut«, sagte er. »Guck mal.« Er bleckte die Zähne. Sein Gebiss war komplett. Es waren alle Zähne da, spitz und scharf wie bei einem kleinen Delfin.
Ich lachte. »Wow. Du hast ja tolle Zähne. Du putzt sie bestimmt sehr gründlich, oder?«
Er nickte.
Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er noch ein Säugling. Nun war er vier Jahre alt. Ich hatte fast zwei Jahre seiner Kindheit versäumt. Bei ihnen allen.
Ich musste gehen. Ich sagte allen einzeln und mit Namen Gute Nacht. Es erklang ein Chor von Abschiedsgrüßen. »Bye, Ella!« »Wir reden bald wieder, Ella.« »Bye, Ella!« »Bis bald, Ella!«
»Willst du warten?«, sagte Charlie zu mir. »Es dauert nicht mehr lang. Gibt es etwas zu besprechen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Alles bestens. Kein Problem. Wir sehen uns morgen.«
Ich rief den Kindern noch einmal »Gute Nacht« zu. Als ich behutsam Charlies Tür schloss, erklangen vier fröhliche, amerikanisch eingefärbte »Gute Nachts«.
Kapitel 42
Liebes Tagebuch,
Ich bin’s, Jess!
Es ist alles wieder gut!!! Ich habe jetzt zwei Leute, bei denen ich wohnen kann, und sogar ein Jobangebot! Dem Himmel sei Dank, dem Himmel sei Dank für die australische Kellnerin. Ja, ich hatte gesagt, dass sie eklig zu mir war, aber so ist sie gar nicht. Sie hatte damals einfach einen schlechten Tag. Aber ich fange am besten ganz von vorn an, bei gestern Vormittag.
Nachdem ich mit Ben gesprochen hatte und er nicht so richtig nett war, war ich ziemlich verzweifelt und kurz davor, mir wieder wehzutun. Es ist alles auf mich eingestürzt, wie eine Flutwelle, und ich habe sogar nach einem Gegenstand gesucht, den ich dafür nehmen könnte. Aber irgendetwas hat mich davon abgehalten. Ich weiß nicht, was. Doch plötzlich habe ich gedacht, nein. Nein, ich will das nicht. Und je länger ich darüber nachgedacht habe, umso sicherer bin ich mir geworden. Ich habe daran gedacht, was mir die Therapeutin immer gesagt hat. »Sie werden das überstehen, Jess, weil Sie ein besonderer und wunderbarer Mensch sind, und genau das müssen Sie sich immer wieder sagen. Sie haben Felix doch geliebt. Sie hätten ihm doch niemals mit Vorsatz etwas angetan.« Und je öfter ich mir das vorgesagt habe, umso bewusster ist mir geworden, dass Felix nicht gewollt hätte, dass ich mich selbst verletze. Und das hat mich davon abgehalten. Die Vorstellung, dass er mich sehen könnte. Ich habe immer insgeheim gehofft, dass er ein kleiner Engel ist und auf uns alle aufpasst. (Ich hoffe nur, er hat nicht aufgepasst, als ich mit Zach im Bett war.) Ich wollte ihm doch niemals Kummer bereiten.
Die Therapeutin hat immer gesagt: »Sie können Ihre Gedanken kontrollieren, Jess. Sie können nicht ändern, was geschehen ist, aber Sie können ändern, wie Sie darüber denken.« Und das habe ich mir immer wieder gesagt, besonders nachdem ich geduscht hatte und
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