Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
wieder in Bens versifftes Wohnzimmer gekommen bin. Im ersten Moment hat mich das Chaos nur daran erinnert, dass einer dieser furchtbaren Typen jetzt mein Handy und mein Portemonnaie hat. Aber dann habe ich mich umgesehen und entschieden: »Ich lasse nicht zu, dass mich dieser Typ oder diese Sache kleinkriegt. Mich nicht.« Und, ja, ich weiß, es klingt furchtbar kitschig und albern, aber ich habe mir vorgestellt, ich hätte eine Rolle in einem Musical, und das alles würde zu meiner Rolle gehören. Und dann ist mir aufgegangen, dass ich, wenn ich schon eine Rolle spiele, etwas tun muss, und so habe ich mich für einen Hausputz entschieden. Die Bude war der reinste Schweinestall, und das war wirklich deprimierend, also habe ich mir gedacht, wenn ich aufräume, geht es mir bestimmt besser, und außerdem könnte ich damit auch bei Ben was gutmachen, weil er so nett zu mir ist und es ja nicht seine Schuld ist, dass diese Typen räuberische Freaks sind.
Also habe ich richtig geackert und dazu gesungen. Ich habe die ganze Zeit gesungen, und diesmal ist kein Portier gekommen, um mir zu sagen, dass ich leiser sein soll. Ich habe all die fröhlichen Lieder gesungen, die wir uns immer für das Finale aufheben. There’s No Business Like Show Business aus Annie Get Your Gun und Don’t Rain on My Parade aus Funny Girl und I Feel Pretty aus West Side Story und dann fast alle Abba-Songs aus Mamma Mia ! Ich habe die ganze Wohnung geputzt, alle Zimmer, bis auf Bens, und ich wette, dass es hier noch nie so sauber war. Davon werden die Möbel zwar nicht weniger schäbig, aber es sieht schon sehr viel besser aus. Und dann war ich so gut drauf, dass ich nicht den ganzen Tag drinnen hocken und auf Ben warten wollte. Mir war eingefallen, dass in der Teekanne ein Ersatzschlüssel liegt, den habe ich mir genommen und mir weiterhin gut zugeredet. »Betrachte das als freien Tag, Jess. Geh auf Erkundungstour. Du bist schließlich in London. Tu einfach so, als wäre das ein Film, und SPIELE Jess, die Unbeschwerte.«
Und was soll ich sagen, das hat WIRKLICH geholfen. Ich habe mir einen Spaß daraus gemacht – bei allem, was ich getan habe, habe ich mir vorgestellt, dass mir ein Kamerateam folgt. Ich bin um Laternenpfähle herumgewirbelt und habe vor den Blumenläden an den Blumen geschnuppert und was die Leute in Filmen so machen, wenn sie eine fremde Stadt erkunden. Und dann bin ich sogar, obwohl es eiskalt war, eine Weile an der Themse entlanggegangen, den Kragen hochgestellt, und habe fremden Menschen zugelächelt, weil das in Filmen auch immer so ist. Nur leider hatte ich kein Geld, von den paar Münzen aus Bens Zimmer abgesehen. Das meiste war für den Anruf im Hotel draufgegangen, das war ein großer Minuspunkt, aber ich habe mir gesagt, mach dir auch darüber keine Sorgen, irgendetwas wird schon kommen. Ich habe sogar beim Gehen auf den Bürgersteig gesehen, denn im Film hätte ein Mädchen wie ich sicher einen Geldschein gefunden oder so. Und außerdem hatte ich vorgesorgt und mir etwas Essbares mitgenommen. Ben hätte das sicher nicht gestört. Das waren sowieso nur Sachen, die er im Hotel gestohlen hatte, also waren es streng genommen auch nicht seine. Und es war echt toll, wie ein Picknick! Ich habe mich auf eine Bank gesetzt und ein paar Erdnüsse und Kekse gegessen und zum Dessert dann drei Pralinen, von den wirklich guten, die einem die Hausmädchen abends auf das Kopfkissen legen, wenn sie das Bett aufschlagen. Ich hatte das ja selbst erlebt.
Dann hatte ich immer noch den ganzen Nachmittag vor mir, aber endlich war die Sonne rausgekommen – und der Himmel stellenweise blau. Also bin ich wieder bis zur Oxford und zur Regent Street gegangen, ein bisschen in die Läden gucken. Unterwegs habe ich einen Bus in Richtung Paddington gesehen. Das hat mich schon ein bisschen traurig gemacht, weil ich an Ella und Felix denken musste, aber dann habe ich mir die Worte meiner Therapeutin ins Gedächtnis gerufen: »Sie werden das überstehen, Jess. Das war eine entsetzliche Tragödie für Sie und Ihre gesamte Familie, aber Sie alle werden das überstehen, wenn Sie sich dafür öffnen, wenn Sie sich alle zugestehen zu trauern und fürsorglich mit sich umgehen, denn niemand wollte doch, dass Felix so etwas Entsetzliches und Trauriges zustößt.« Und noch etwas, was sie immer gesagt hat, ist mir eingefallen: »Darüber hinwegkommen werden Sie niemals, Jess. Das nicht. Sie werden aber lernen, damit zu leben. Das macht einen großen
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