Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
eine E-Mail zu verschicken. Einer jungen Frau konnte so viel widerfahren, zu viel Alkohol, Drogen, die falschen Leute, ein Auto, das sie irrtümlich für ein Mini-Cab hielt …
Aufhören.
Ablenken.
Ich dachte an Charlie. Ich dachte daran, wie wir drei, Charlie, Lucas und ich, am Kamin gesessen hatten.
Lucas und Charlie hatten vor allem über Jess gesprochen. Charlie hatte alles gewusst, er wusste von den Antidepressiva, der Therapie, den Selbstverletzungen. Ich hatte geschwiegen. Ich hatte auch geschwiegen, als sich das Gespräch anderen Themen zugewandt hatte. Charlies Kindern. Boston. Den wöchentlichen Berichten. Lucas hatte Charlie gebeten, ihm noch einmal den legendären Zahnarztbesuch zu schildern. Charlie hatte gegrinst. »Erinner mich nicht daran!« Es sei das reinste Pandämonium gewesen. Sophie war in Ohnmacht gefallen. Reilly aus dem Stuhl gesprungen und schreiend durch das Wartezimmer gelaufen. Ed hatte sich falsche Zähne eingesteckt, die auf einem Regal gelegen hatten. Tim, dem Jüngsten, war es irgendwie gelungen, den Bohrer einzuschalten. Charlie und die Kinder waren aus der Praxis hinauskomplimentiert und gebeten worden, sich nie wieder blicken zu lassen. Charlie hatte während seiner Erzählung unentwegt gelächelt. Lucas, der die Schilderung sichtlich genossen hatte, auch.
Ich hatte das alles zum ersten Mal gehört.
»Das mit Lucys Prüfungsergebnissen ist fantastisch«, hatte Lucas gesagt.
»Sie ist brillant«, hatte Charlie erwidert. »Noch zwei Semester, dann hat sie ihren Abschluss in Marketing.«
Ich hatte nicht gewusst, dass sie neben dem Beruf studierte.
Ich wälzte mich im Bett herum. Ich war so erschöpft, trotzdem konnte ich nicht schlafen. Ich ging den Tag in Gedanken noch einmal durch. Der Morgen bei Henrietta. Mein Gespräch mit Lucas. Mein Telefonat mit Mum. Aidans Brief. Die Suche nach Jess. Charlies Ankunft in London, zeitgleich mit Aidans.
Da kam mir etwas in den Sinn. Etwas, das Charlie im Zug zu mir gesagt hatte.
Ich habe auf einen Vorwand gewartet, um zu dir zu kommen. Ich bin sehr froh, dass Jess vermisst wird.
Vermisst.
So wie angeblich eine Karte, eine Kette, eine Statuette, ein Ring und eine Uhr.
Ich setzte mich auf. Jess wurde nicht vermisst. Auch das war eine Finte, von Lucas und Charlie ausgeheckt. Sie hatten bestimmt gewusst, dass Aidan beruflich nach London kam. Sie hatten sich bestimmt gedacht, dass das die Gelegenheit war, mich und Aidan zusammenzubringen. War auch Mum darin verwickelt? Und Jess? Hatten sie Jess gebeten, eine Zeit lang nichts auf Facebook zu posten? Ich kombinierte eines mit dem anderen. Es fügte sich schlüssig aneinander.
Ich zog mir den Bademantel an und stieg die Treppe hinunter. Die Tür zu Charlies Zimmer stand offen, sein Bett war leer. Die Dusche rauschte. Ich ging nach ganz unten. Lucas war noch im Gegensalon, er stellte gerade den Schirm vor das Feuer.
Er drehte sich zu mir. »Du kannst nicht schlafen? Das wundert mich nicht.«
»Jess wird nicht vermisst, oder, Lucas? Das habt ihr beide eingefädelt. Lucas, ich weiß das zu schätzen, wirklich, aber ihr müsst mich …«
»Ella, es tut mir leid, da irrst du dich.«
»Lucas, sag mir bitte die Wahrheit. Charlie kommt im gleichen Moment nach London, wenn Aidan wegen einer Konferenz hier ist? Und dann wird auch noch Jess vermisst? Ich weiß, was ihr vorhabt. Aber könntet ihr bitte …«
»Nein, Ella.« Lucas fuhr sich durchs Haar. Er wirkte sehr müde. »Ich wünschte, wir hätten uns das ausgedacht. Ich wünschte, Jess würde nicht vermisst. So etwas würde ich Meredith und Walter niemals antun, selbst wenn ich hoffen würde, dass es dich zu Verstand, dich dazu bringen würde, endlich wieder an andere Menschen zu denken und nicht immer nur an dich.«
Ich wurde still.
»Es tut mir leid, dass ich so direkt bin. Ich weiß auch, dass bald die Schwelle der zwanzig Monate überschritten wird. Ich weiß, was das für dich bedeutet. Aber du bist nicht der einzige Mensch in dieser Familie, der darunter leidet.«
»Lucas …«
Er hob die Hand. »Ich weiß. Ich weiß, was du sagen willst. Du hast jede Ausrede dieser Welt parat, damit du tun und lassen kannst, was immer du willst. Aber die vergangenen zwanzig Monate waren für uns alle die Hölle. Für uns alle musste das Leben irgendwie weitergehen. Charlie hat sich mehr als alle anderen bemüht, etwas zur Erheiterung beizutragen, seine wöchentlichen E-Mails auch weiterhin zu schreiben, deine Mutter ein wenig aufzumuntern.
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