Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
ihn wahrscheinlich ohnehin nie wiedergesehen hätte? Dann dämmert es ihm. Er mahnt sich, nicht wie ein Leuchtturmwärter mittleren Alters zu denken, sondern wie eine junge Frau, die ihr Baby verloren hat, das heute so alt wäre wie Xavier.
»Isabella«, sagt er ganz leise und sanft, »hattest du vor, das Kind zu stehlen?«
»Nicht stehlen, nein«, sagt sie rasch. »Ich hatte daran gedacht … ihn zu überreden, mit mir zu kommen.«
Matthew beherrscht sich. Sie zu verurteilen, würde nicht helfen.
Sie schluchzt los. »Ich sehe jetzt ein, dass es sinnlos gewesen wäre. Ich sehe jetzt …«
»Du hattest gehofft, er könnte dir Daniel ersetzen.«
Sie setzt sich auf und schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht! Habe ich versucht, Daniel zu ersetzen? Wenn ich jetzt an Xavier denke, ist er nur ein kleiner Fremder, der Sohn einer anderen. Aber Daniel ist auch ein Fremder geworden. Ich habe ihn nie gut genug gekannt, um ihn zu vermissen, Matthew.« Ihre Stimme bricht, und sie braucht einen Augenblick, um sich zu fassen. »Aber ich vermisse ihn dennoch.« Sie ballt die Hand zur Faust und schlägt damit zwischen ihre Brüste. »Ich vermisse ihn.«
Matthew schließt Isabella in die Arme.
»Sie ist leer«, schreit sie. »Die Welt ist so leer.«
»Sch«, sagt er beruhigend.
Sie weint und weint und bebt in seinen Armen. Doch irgendwann ebbt ihr Weinen ab wie das Gewitter und vergeht, und er merkt, dass sie eingeschlafen ist.
Er bettet ihren Kopf aufs Kissen und deckt sie zu. Eine Weile bleibt er neben ihr sitzen und streichelt ihr leicht über Haar und Rücken. Was hat sie sich nur gedacht? Dass Xavier Daniel wäre, nur weil sie einander ein bisschen ähnlich sind?
Und dann ist es plötzlich, als würde das Licht im Zimmer heller scheinen. Denn er begreift, wie er gedacht hat, nur weil Clara und Isabella einander etwas ähnlich sind. Er schaut in Isabellas Gesicht. Es ist weicher als Claras. Alles an ihr ist weicher. Sie stellt keine Forderungen. Sie ist jung und verängstigt, aber nicht wild oder grausam; sie ist einfach nur verletzt worden. Denn obwohl Clara stets protestiert und dramatischen Widerstand geleistet hat, ist ihr nie etwas Schlimmes zugestoßen. Isabella hingegen hat ein Kind verloren und durfte nie darum trauern.
Als er darüber nachdenkt, wird ihm klar, dass sie einander überhaupt nicht ähnlich sind. Nicht im Geringsten.
Nach der Nachtschicht legt sich Matthew ins Bett. Isabella schläft noch. Er schmiegt sich an sie und hält sie fest, döst ein. Keine Stunde später wacht er auf und sieht, wie sie sich aus dem Fenster erbricht. Er steht auf und reibt ihren Rücken. Sie sagt, ihr sei schlecht, und er antwortet, sie solle zurück ins Bett kommen, er werde ihr Tee machen. Als er zurückkommt, zittert sie und hält sich den Magen. Die Angst durchzuckt ihn wie einen Stromstoß.
»Ruh dich aus, hübsches Vögelchen. Du musst dich ausruhen.«
»Du auch. Ich habe dich geweckt.«
»Es geht schon. Aber du bist krank.«
Sie trinkt ihren Tee und legt sich wieder hin. »Ich bin so müde, Matthew.«
Er schaut zu, wie sie einschlummert, und schläft dann neben ihr ein. Der Tag wird hell und warm.
Als er wieder aufwacht, liegt sie neben ihm und schaut an die Decke. Er dreht sich auf die Seite und streichelt ihr Haar. »Geht es dir besser?«
»Nein. Mein Körper fühlt sich an, als hätte man ihn in einem Schraubstock zerdrückt.«
Er befühlt ihre Stirn, doch sie ist nicht heiß. »Bleib im Bett, bis es dir bessergeht.«
Ein Tag vergeht, dann zwei, und es geht ihr nicht besser. Sie erbricht sich regelmäßig und klagt über extreme Müdigkeit. Die ganze Zeit über ist sie wie gelähmt vor schwerer Trauer. Er hilft ihr, so gut er kann, wenn er nicht gerade arbeiten muss, aber allmählich wird auch er müde. Müde, weil er ständig aus dem Schlaf gerissen wird und weil er die furchtbare Sorge nicht abschütteln kann. Er will nicht, dass sie noch kränker wird. Er will nicht, dass sie stirbt. Als er sich erkundigt, wie sie sich fühle, was ihr denn weh tue, sagt sie einfach nur, ihr Herz sei krank. Ihr Herz hat entschieden, dass sie nie mehr aufstehen wird. Er drängt sie nicht, erinnert sie nicht an New York oder die Bedrohung durch die Winterbournes. Er wartet und bringt ihr Essen und führt sein Leben fort, doch die Angst presst ihm die Luft ab.
Am dritten Tag wagt er, sie eine Stunde allein zu lassen, während er in die Stadt geht. Er fürchtet noch immer, sie könne sich von der oberen Plattform
Weitere Kostenlose Bücher