Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
nicht sprechen. Hat er sie vergessen? Nach nur drei Monaten? Sie hat jeden Tag an ihn gedacht, und er hat sie vergessen? Ein reißender Schmerz überfällt sie. Sie will ihn mit ihren Armen erdrücken. Sie sehnt sich nach den Nächten, in denen sie im schmalen Bett im Haus der Fullbrights seinen Duft eingeatmet hat.
Als sie so lange schweigt, wird das Kindermädchen misstrauisch. »Ma‘am?«
»Ich …« Sie macht den Mund auf und schließt ihn wieder wie ein sterbender Fisch im Sand.
»Wie heißen Sie, Ma‘am? Vielleicht erinnert er sich, wenn er Ihren Namen hört.«
Aber sie kann ihren Namen nicht nennen, keinen von beiden. Sie dürfte eigentlich nicht einmal mit ihnen reden. Falls das Kindermädchen Katarina davon erzählt und diese die Verbindung herstellt, falls sie dazu noch die Anzeige in der Zeitung gelesen hat … Isabella erhebt sich. »Verzeihen Sie, dass ich Sie belästigt habe. Vielleicht ist es das falsche Kind.«
Das falsche Kind. Oh, ja. Er ist immer das falsche Kind gewesen.
»Sehr wohl, Ma‘am. Ich muss den Kleinen jetzt vor dem Gewitter in Sicherheit bringen.« Das Kindermädchen zieht Xavier an sich, und er geht bereitwillig und glücklich mit ihr. Isabella schaut ihnen nach und versucht, den Strand hinaufzugehen. Ihre Knie sind wie Gummi. Ein Schritt. Noch einer. Dann kann sie nicht weiter und lässt sich fallen, sinkt seitlich in den Sand. Ihr Haar breitet sich um sie aus und fällt ihr ins Gesicht. Sie rollt sich zu einer Kugel ein und schluchzt, den Mund voller Sand und Haare. Die ersten kalten, dicken Regentropfen fallen auf ihren Handrücken. Sie rührt sich nicht. Die Bäume im Wald peitschen wild hin und her. Der Wind lässt Sandkörner auf sie niederprasseln. In der Ferne kracht der Donner. Sie rührt sich nicht. Der Regen geht nieder, schlägt runde Löcher in den Sand, durchweicht ihre Kleidung. Sie rührt sich nicht. Sie kann sich nicht bewegen. Ihr Traum ist zerbrochen, und darin findet sie nun den harten, schwärzesten Kern der Wahrheit: Daniel ist gestorben, und es gibt keinen Trost. Es wird niemals einen Trost geben. Sie liegt im peitschenden Regen und wünscht sich, der Ozean möge sich erheben und sie verschlingen, wie er es schon vor Monaten hätte tun sollen.
Matthew erwacht vom Krachen des Donners. Er dreht sich auf die Seite und fächelt sich mit der Bettdecke etwas Kühlung zu. Dann schließt er die Augen und versucht, den Schlaf zu vertreiben. Es regnet stark. Wieder öffnet er ein Auge. Es ist sehr dunkel. Das Meer ist stürmisch. Er muss das Signalfeuer anzünden.
Erschöpft steht er auf; vielleicht kann er nach dem Gewitter noch ein oder zwei Stunden schlafen. Er zieht Hemd und Schuhe an und steigt die Treppe hinauf. Er pumpt Luft in den Druckbehälter, zündet das Signalfeuer an, justiert die Gewichte und steigt wieder hinunter. Isabellas Schmuckutensilien sind alle verstaut, und er muss sich eingestehen, dass er es vermisst, sie bei der Arbeit zu sehen. Damals wirkte sie glücklich, beschäftigt und konzentriert.
Erst da wird ihm klar, dass er Isabella seit längerem nicht im Leuchtturm gehört hat. Stirnrunzelnd sucht er sie in der Küche und im Telegrafenraum, doch sie ist nirgendwo zu sehen.
Sie ist nicht hier. Also ist sie draußen. Im Gewitter.
Matthew will sich selbst beruhigen. Sie geht jeden Nachmittag an den Strand. Vielleicht wurde sie vom Gewitter überrascht und hat im Wald Schutz gesucht. Weiß sie, dass man sich bei einem Gewitter von hohen Bäumen fernhalten muss?
Ein heftiger Blitz zuckt über den Himmel, als wolle er diesen Gedanken unterstreichen, und gleichzeitig kracht der Donner, dass Matthew zusammenzuckt. Soll er nach ihr suchen? Isabella ist aus hartem Holz geschnitzt; sie hat einen Schiffbruch überlebt und ist meilenweit bis zu seinem Leuchtturm gewandert. Doch er hat auch dunklere Gedanken: Er hat immer befürchtet, dass die Familie ihres Ehemanns sie finden könnte, wenn er nicht da ist, um sie zu beschützen. Er geht zur Tür, zieht Regenmantel und Gummistiefel an und tritt hinaus ins Gewitter.
Der Wald steht unter Wasser, der Boden ist schlammig, Blätter und Äste wurden von den Bäumen gerissen. Der Regen geht als wahre Sintflut nieder und sickert in Kragen und Stiefel. Sein Bart tropft, bevor er auch nur den Strand erreicht hat. Er schaut in die graue Ferne und kann sie zuerst nicht sehen, aber er sucht ja auch nach jemandem, der aufrecht steht. Dabei liegt sie auf der Seite, zusammengerollt, in einem blassblauen
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