Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
stürzen, wenn er nicht da ist, aber sie haben nichts mehr zu essen. Außerdem muss er die Post abholen.
Es ist ein kleines Bündel, das mit einer Kordel verschnürt ist, und erst zu Hause entdeckt er den Brief an Isabella. Abgesendet von einer Adresse in New York. Sein Herz schlägt schneller. Victoria. Sie haben Victoria endlich gefunden.
Er will ihn Isabella bringen, zögert aber. Wenn es nun schlechte Neuigkeiten sind? Wenn sie nun schreibt: »Komm nicht her?« Eine solche Nachricht könnte Isabella endgültig zerbrechen.
Voller Angst und Schuldgefühl öffnet er den Umschlag, entfaltet den Brief und überfliegt ihn. Eine Mischung aus Furcht und Hoffnung. Was wird dieser Brief in Isabella auslösen? Kann er es wagen, ihn ihr zu zeigen?
Dann hört er, wie sie sich im Nebenzimmer erneut erbricht. Er schiebt den Brief unter einen Stapel Papier und sagt sich, dass er ihn ihr an einem anderen Tag geben wird, wenn sie sich kräftiger fühlt.
Isabella ist unter einer grauen Wolke versunken. Sie dringt in ihre Ohren und Augen und Lungen und Knochen, und sie empfindet eine müde Übelkeit, die nie verschwinden will. Sie bleibt im Bett und weint und schläft und weigert sich, an die Zukunft zu denken. Matthew kümmert sich um sie, und sie lässt es zu, obwohl sie weiß, dass sie ihm zur Last fällt. Sie gestattet sich, eine Last zu sein, und sinkt immer tiefer hinab. Doch wo sie einen festen Boden erwartet, gibt es nur weitere Wolken. Immer und immer tiefer.
Nach einer Woche fühlt sie sich gut genug, um sich aufzusetzen, Suppe zu essen und ihn zu bitten, den Vorhang zu öffnen, damit sie aus dem Fenster sehen kann. Der Himmel ist sehr blau, und die Seeluft scheint die Übelkeit ein wenig wegzuwaschen. Matthew stellt einen Hocker neben das Bett und schaut sie prüfend an, ohne etwas zu sagen.
Dann endlich fragt sie: »Was ist los?«
»Geht es dir besser?«
»Vielleicht.« Sie will nichts versprechen, das sie nicht halten kann.
Er nickt und scheint eine Entscheidung zu treffen. »Vor vier Tagen habe ich einen Brief von deiner Schwester Victoria abgeholt.«
Victoria. Als sie den Namen ihrer Schwester hört, wird es Isabella leichter ums Herz. Ihr fällt ein, was alles möglich ist. »Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Im Brief stehen auch schlechte Neuigkeiten.«
Sie beginnt wieder zu sinken. »Und sie will nicht, dass ich komme?«
»Das ist es nicht.«
»Warum hast du ihn gelesen?«
»Weil ich dich immer und überall beschützen will, Isabella.« Er reicht ihr den Brief. »Es tut mir leid, dass ich ihn schon gelesen habe. Aber wenn du ihn selbst liest, wirst du verstehen, weshalb ich es nicht bereue.«
Isabella merkt, dass ihre Hände zittern, als sie das Blatt entfaltet.
Meine liebe Isabella,
du kannst dir gar nicht vorstellen, wie willkommen mir deine Zeilen sind, obwohl sie durch so viele Hände gegangen sind, bis sie mich endlich erreicht haben. Wir sind im März umgezogen, und ich habe dir an deine alte Adresse in Somerset geschrieben, aber du warst natürlich schon auf Reisen. Schwester, ich habe geglaubt, du seist bei dem Schiffbruch ums Leben gekommen! Ein Freund meines Ehemannes hat es in der Zeitung gelesen. Die Winterbournes haben es nicht für nötig gehalten, mich selbst über dein Schicksal in Kenntnis zu setzen. Ich bin erstaunt und erleichtert, dass du am Leben bist, aber auch neugierig, wo du bist und was du machst. Ich werde, wie du mich in deinem ursprünglichen Telegramm dringend ersucht hast, dein Geheimnis bewahren und hoffe, dass du bald bei mir bist und mir alles erzählen kannst. Du bist willkommen, so lange zu bleiben, wie du möchtest. Ich schreibe meine Adresse auf die Rückseite des Umschlags, und du kannst jederzeit, bei Tag oder Nacht, zu mir kommen. Ich vermute, du bist weit weg, aber ich werde warten und hoffen. Zu wissen, dass du am Leben bist, reicht mir.
Nun, Schwester, habe ich dir auch unglückliche Neuigkeiten mitzuteilen. Du wirst dich erinnern, dass ich bei unserem letzten Briefwechsel mein erstes Kind erwartete. Zweifellos hast du mich in Gedanken oft mit einem Säugling gesehen, aber dies ist leider nicht der Fall. Die Schwangerschaft verlief nicht gut, und nach wenigen Monaten wurde ich sehr krank und verlor das Kind. Noch trauriger, ich verlor auch das nächste Kind unter ähnlichen Umständen. Ein Arzt hat mir geraten, nicht mehr schwanger zu werden, weil mein Leben dann in Gefahr sei, und so werde ich kinderlos bleiben. Bitte sei nicht traurig wegen
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