Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
Dämmerung brach herein.
Schließlich legte sie die Zeichnung beiseite und beschloss, am nächsten Tag in der Bücherei einige Werke über Schiffe auszuleihen. Sie würde die Aurora malen, als Erinnerung an Mark. Aber sie musste sich sorgfältig vorbereiten und die Fähigkeiten, die sie beim Kunststudium erlernt hatte, wieder auffrischen.
Sie zog Sandalen an und ging an den Strand, wo ihr erst auffiel, wie schnell die Nacht hereingebrochen war. Als ihr die erste Sandkrabbe über die Zehen lief, machte sie kehrt.
In diesem Augenblick bemerkte sie einen Mann, der an der Tür zum Leuchtturm stand. Er hatte blondes Haar und breite Schultern, mehr konnte sie nicht erkennen. Sie spähte um die Ecke des Hauses. Er nestelte am Schloss und öffnete die Tür des alten Gemäuers. Dann schaute er sich verstohlen um und trat ein.
Also war tatsächlich jemand im Leuchtturm, der eigentlich nicht dorthin gehörte. Libby ging ins Cottage und schloss die Tür hinter sich ab. Die Zivilisation schien sehr weit entfernt.
Irgendwann in der Nacht schreckte sie auf und fragte sich einen Moment lang, weshalb sie wach geworden war. Der Jetlag war doch schon seit Tagen vorbei.
Ein Geräusch.
Plötzlich erwachten all ihre Sinne, sie horchte angestrengt.
Heißer Schrecken durchzuckte sie. Jemand lauerte draußen vor dem Fenster.
Sie konnte sich vor lauter Angst nicht bewegen, wollte wieder in den Schlaf des Vergessens sinken. Dann hörte sie Schritte an der Seite des Hauses. Libby erinnerte sich an den Mann, den sie im Leuchtturm gesehen hatte. Sie schlug vorsichtig die Decke zurück, schlüpfte aus dem Bett und lief geduckt in die Küche zum Telefon.
Sie hatte das Handy irgendwohin gelegt – sie tastete über die Arbeitsplatte –, konnte es aber nicht finden. Sollte sie das Licht einschalten? Würde das den Eindringling abschrecken oder ermutigen, würde er dann hereinstürmen und … was? Was hatte er vor?
Libby unterdrückte ein ängstliches Stöhnen. Sie war so weit von der Stadt entfernt, wohnte ganz am Ende der Straße. Ihre Hand stieß gegen einen Teelöffel, der klirrend zu Boden fiel. Sie erstarrte und hielt die Luft an. Nichts zu hören außer dem Wind und dem Meer.
Sie beschloss, mutig zu sein, und schaltete das Licht ein.
Die Schritte draußen beschleunigten sich. Ein Motor sprang an, der Wagen parkte in ihrer Einfahrt. Sie lief zur Haustür und stieß sie auf. In diesem Augenblick wurde sie von Scheinwerferlicht geblendet. Eine dunkle Gestalt – zu groß und breit für eine Frau – setzte sich auf den Beifahrersitz, und der Wagen fuhr dröhnend davon. Libby blieb mit einem geisterhaften Nachbild der Scheinwerfer vor den Augen zurück. In der Ferne hörte sie eine Fehlzündung.
Dann ging sie hinein und verschloss die Tür, bevor sie auf der Polizeiwache anrief.
»Sergeant Scott Lacey«, meldete sich eine schläfrige Stimme.
Libby berichtete atemlos, wo sie war und was sich ereignet hatte.
»Und die sind jetzt weg?«
»Sieht so aus.«
»Ich glaube, Sie müssen sich keine großen Sorgen machen. So ist das, wenn man am Strand wohnt … da treiben sich zu den seltsamsten Zeiten Leute herum.«
»Er war nicht am Strand. Er ist um mein Haus geschlichen.«
»Es hat lange leer gestanden. Vermutlich dachte er, es sei unbewohnt … aber ich komme mal vorbei und sehe mich um. Wenn Sie möchten, nehmen wir Ihr Haus in unsere Runde auf.«
Libby entspannte sich. »Dafür wäre ich Ihnen wirklich dankbar.«
»Sicher. Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wie Sie heißen.«
»Libby Slater.«
»Libby? Juliets Schwester? Kennst du mich nicht mehr? Wir hatten zusammen Mathe.«
Libby kramte in ihrer Erinnerung. Scott Lacey. Wilde Surferlocken und nur Unsinn im Kopf. »Ach, ja. Scott.« Es beruhigte sie nicht gerade, dass er jetzt der örtliche Gesetzeshüter war.
»Schön, dass du wieder da bist. Juliet ist eine alte Freundin von mir.«
Dann wusste er vermutlich auch über ihre eigene Vergangenheit Bescheid. Scham durchflutete sie.
»Keine Sorge, Libby, wir behalten dich im Auge.«
Seine Worte sollten tröstlich klingen, doch sie spürte, dass die Sicherheit, nach der sie sich sehnte, weit entfernt war. Wenn Mark sie in Paris besucht hatte, war sie manchmal mit dem Kopf auf seiner Brust eingeschlafen und hatte seinen warmen, männlichen Duft eingeatmet. Dann hatte sie sich sicher gefühlt, beschützt. Es kam ihr vor, als wäre sie von einer undurchdringlichen Blase umgeben, die von Licht und Liebe erfüllt war.
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