Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
Die Vorstellung, nie wieder so zu empfinden, ließ sie erzittern. Sie presste die Füße fest auf den Boden. »Danke«, stieß sie hervor. »Gute Nacht.«
Libby ging wieder ins Bett. Nach einer halben Stunde hörte sie den Streifenwagen kommen und wieder davonfahren, aber sie schlief erst ein, als es dämmerte und sich nichts mehr in den Schatten verbergen konnte.
Libby wollte sich einreden, es sei ihr egal, dass Juliet nicht zurückgerufen hatte. Sie hatte den ersten Schritt getan; jetzt war Juliet an der Reihe. Erst am Samstagnachmittag wurde ihr klar, dass sie keine Telefonnummer hinterlassen hatte und ihre Schwester vielleicht nicht unangemeldet vorbeikommen wollte.
Verdammt, warum war sie nur so unfähig , wenn es um Familie ging?
Mit flatterndem Herzen rief sie in der Teestube an. Juliet meldete sich beim dritten Klingeln.
Libby hatte sich ihre Worte genau zurechtgelegt. »Hier ist Libby. Störe ich?«
»Ich schließe gerade.«
»Ich möchte dich gerne sehen.« Klang das zu dominant? Zu sentimental? Libby erinnerte sich an ihre letzte Begegnung. Die schmutzigen Tische. Juliets gehetzter Blick. »Ich kann dir auch beim Aufräumen helfen.«
»Nein, nein, ich komme schon zurecht. So wie immer. Komm doch gegen sieben vorbei, ich mache uns was zu essen.« Juliet klang noch kühler als zuvor. Was hatte sie jetzt wieder falsch gemacht?
»Klingt toll.«
»Ich lasse das Tor an der Seite für dich offen. Wir haben viel zu besprechen.«
Libbys Herz bebte, während sie duschte und sich anzog. Wir haben viel zu besprechen. Was meinte Juliet damit? Warum hatte sie so düster geklungen? Oder waren es nur ihre eigenen Schuldgefühle? Libby wusste, dass sie eine schlechte Schwester gewesen war. Sie wusste, dass sie zwanzig Geburtstage und Weihnachten verpasst hatte; sie war nicht einmal zur Beerdigung ihres Vaters gekommen. Sie hatte alles verpasst. Für ihre engsten Angehörigen war sie zur Fremden geworden. Versehentlich? Mit Absicht? Aber es steckt mehr dahinter; manche Wunden waren so tief, dass sie niemals heilten.
Um sieben hielt sie vor der Teestube und ging die Stufen zu der Wohnung hinauf, in der sie, Juliet und ihr Vater damals gewohnt hatten. Die Abendluft roch nach Regen. Juliet rief sie durchs Treppenhaus.
»Hier drüben. Ich habe die alte Wohnung in Gästezimmer umgebaut.«
Und dann standen sie einander gegenüber, während die abendliche Meeresbrise die Wedel der Palmen an der Straße rascheln ließ. Libby wusste nicht, ob sie ihre Schwester umarmen sollte. Welches Protokoll musste sie nach so langer Zeit beachten? Ihre Arme schienen plötzlich schwer und unbeholfen.
»Komm rein«, sagte Juliet und wandte sich ab.
»Du wohnst zur Straße hinaus?«
»Hier ist nachts wenig Verkehr. Ich kann immer noch den Ozean hören.« Es klang ein bisschen defensiv.
»Sieht hübsch aus.« Es fiel ihr nicht schwer, die Wohnung aufrichtig zu loben. Juliet hatte sie in Meeresblau und Blassgelb eingerichtet, auf dem Sofa lagen viele karierte Kissen, und alles wurde sanft von geschickt plazierten Lampen beleuchtet. Eine einladende Wohnung. Gemütlich. Libby spürte den Hauch von Trost, Akzeptanz und Wärme, den man nur in einer Familie findet.
»Setz dich.« Juliet klang distanziert und müde. »Ich habe Risotto gemacht. Es ist fast fertig.«
»Vielen Dank, ich weiß, wie viel du zu tun hast.«
»Was du nicht sagst«, rief Juliet aus der Küche.
Während sie das Essen auftrug, schaute Libby sich im Zimmer um: eine Computerecke mit Schreibtisch, auf dem sich Papierkram türmte, ein Bücherregal mit vielen zerlesenen Taschenbüchern und … Libbys Herz schlug schneller. Ein Bild von Andy. Juliet hatte immer noch ein Bild von Andy. Sie wandte sich rasch ab und schaute auf ihre Fingernägel, die Paspel an den Sofakissen, stand auf und sagte: »Kann ich dir helfen?«
»Nein.« Juliet tauchte aus der Küche auf. »Setzen wir uns aufs Sofa, das ist gemütlicher.«
Sie setzten sich und aßen. Das Schweigen war unangenehm, das Essen aber wunderbar.
»Du kannst hervorragend kochen.«
»Warum bist du zurückgekommen?«, fragte Juliet im selben Augenblick.
Sie lachten verlegen.
»Es wurde Zeit.« Libby hoffte, die rätselhafte Antwort würde ausreichen.
Falsch gedacht. »Was soll das heißen?«
Libby seufzte. »Es ist einiges … schiefgelaufen. Ich war …« Nein, das konnte sie Juliet nicht erzählen. Sie konnte ihr nicht erzählen, dass sie zwölf Jahre lang eine Affäre mit einem verheirateten Mann gehabt
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