Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
angefertigt hatte. »Der Amtsstab bestand aus Gold und war mit vier Smaragden, acht Rubinen, vier Saphiren und einem einzelnen Diamanten an der Spitze besetzt. Arthur Winterbourne, der älteste Sohn der Juwelierfamilie, hatte ihn entworfen und die Herstellung überwacht. Er wollte ihn persönlich nach Australien bringen. Winterbourne und Whiteaway waren gemeinsam zur Schule gegangen, daher nahm ihn der Kapitän bereitwillig mit an Bord.« Wieder ein Schluck Kaffee, die nächste Plastikhülle, die diesmal das meteorologische Foto eines Wirbelsturms zeigte.
Graemes Stimme wurde düster, zweifellos war er es gewohnt, die Geschichte für seine Kunden möglichst dramatisch aufzubereiten. »Sie sollten Fracht in Brisbane löschen und dann weiter nach Sydney segeln, gerieten vor der Südostküste jedoch in einen Sturm. Der Leuchtturmwärter auf Cape Franklin berichtete, er habe das Schiff am Abend des 7. April noch gesehen, doch der Leuchtturm von Lighthouse Bay, der nächste an dieser Küste, hat die Aurora nie gesichtet. Nur Gott weiß, weshalb sie in die Bucht segeln wollten; vielleicht um Wasser zu tanken, oder sie hofften, das Schiff auf Strand laufen zu lassen. Jedenfalls trafen sie auf ein unter Wasser liegendes Riff.« Er deutete aufs Meer. »Die Wetterbedingungen waren entsetzlich, es war spät in der Nacht, das Schiff zerschellte. Es gab keine Überlebenden. Als die Aurora nicht in Brisbane eintraf, schickte die örtliche Polizei einen Suchtrupp los. Hier am Strand wurden Trümmer angespült. In den folgenden Wochen barg man einen großen Teil der Ladung und einige Leichen. Der jüngere Bruder, Percy Winterbourne, reiste hierher, um die Unglücksstelle mit eigenen Augen zu sehen. Er besuchte zahlreiche Orte an der Ostküste, um herauszufinden, ob nicht doch jemand etwas wusste. Doch er fand nie einen Hinweis und starb eines Abends überraschend in einem Hotelzimmer in Tewantin.«
Percy war Marks Urgroßvater gewesen. »Überraschend? Unter verdächtigen Umständen?«
Graeme schüttelte den Kopf. »Laut unseren Heimatforschern nicht. Er fiel einfach tot um.«
Libby dachte an Marks Aneurysma.
»Die Sache ist die, der Amtsstab wurde nie gefunden. Also suchen die Leute immer noch danach. Darum bin ich im Geschäft.« Er blätterte zu einem anderen Foto in seiner Mappe: ein halbes, mit Seepocken bewachsenes Schiff, das unter Wasser auf der Seite lag.
»Meinen Sie, der Amtsstab ist noch irgendwo da unten?«
»Keine Ahnung. Das ist ein Geheimnis. Das Wrack wurde schon von vielen Leuten durchsucht, und niemand hat je etwas entdeckt. Die Leute tauchen immer noch gern hinunter – wer kann einer Schatzsuche schon widerstehen? –, aber ich glaube, die meisten wissen, dass sie nichts finden werden. Sie sollten mal mitkommen und selbst einen Blick riskieren.«
»Ich glaube, Tauchen ist nicht gerade meine Stärke«, meinte Libby. Die Vorstellung, so tief unter Wasser zu sein, machte ihr Angst.
»Wer schwimmen kann, kann auch tauchen. Es ist ganz einfach.«
Mark würde es tun. Und er würde wollen, dass Libby es versuchte.
»Ich gebe Ihnen einen freundschaftlichen Rat«, sagte Graeme, als er ihr Zögern bemerkte. »Sie sollten wirklich einen Blick darauf werfen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber zeigen Sie mir doch noch ein paar Bilder.«
Er blätterte in seiner Mappe und präsentierte ihr weitere Aufnahmen der geborgenen Ladung, berichtete von den Gedenkfeiern zum 100-jährigen Jahrestag des Untergangs und lieferte ein bisschen Lokalgeschichte. Die Familie Winterbourne erwähnte er jedoch nicht mehr, und Libby ertappte sich dabei, wie sie Kaffee trank und auf den Horizont schaute und sich wünschte, Mark wäre hier, damit er sie an die Hand nehmen und mit ihr tauchen und sie sicher wieder nach oben bringen könnte.
Als Libby nach Hause kam, schaltete sie den Ventilator über dem Bett ein und legte sich hin. Stunden später erwachte sie orientierungslos und mit hämmernden Kopfschmerzen. Ihr Baumwollkleid klebte feucht am Körper. Sie wärmte sich gebratenen Reis in der Mikrowelle auf und ging ins Atelier. Das Foto von der Aurora, das Graeme ihr gezeigt hatte, faszinierte sie. Als Künstlerin liebte sie Tiefe und Details, und die alten Schiffe waren mit einem Netz aus Tauen und Takelage überzogen. Sie blätterte in ihrem Turner-Buch und fand eines seiner Schiffsgemälde. Sie setzte sich mit einem Zeichenblock hin und begann, ein Detail der Takelage zu kopieren. Die Stunden vergingen, die
Weitere Kostenlose Bücher