Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
der Steigung in den Verkehr einfädeln konnte. Bald aber kehrte das Gefühl dafür zurück, und das machte ihr Mut.
Libby ließ den Motor an und fuhr wieder auf die Straße, die sich am Rand der Klippen nach Norden zog. Als die Gegend flacher wurde, kam der weiß-goldene Strand in Sicht. Er war verlassen, nur einige Fischer und verrückte Sonnenanbeter trotzten der Mittagshitze. Lighthouse Bay lag zu weit im Norden, um sich der gleichen Beliebtheit zu erfreuen wie die berühmten Strände von Noosa und Peregian. Als Libby Ende der achtziger Jahre die Stadt verlassen hatte, war sie provinziell gewesen, ein Ort, aus dem die jungen Leute nach Brisbane oder Sydney flohen. Als sie die Straße in die Stadt hinauffuhr, bemerkte sie, dass sich auch hier einiges verändert hatte. Die Hauptstraße war zu einer Einkaufsmeile geworden. Geschäfte mit Strandartikeln, Straßenrestaurants, ein edles Eiscafé, schicke Imbisse, ein großer Getränkemarkt. Der langsame, aber unaufhaltsame Fortschritt zeigte sich auch in einem kleinen Einkaufszentrum mit weiß verputzten Mauern und vielen Fenstern und einer Smoothie-Kette in bester Lage.
Dann sah sie es, fast wie früher, nur frisch gestrichen: das Bed & Breakfast ihres Vaters. In ihrer Kindheit waren im Sommer alle vier Gästezimmer belegt gewesen, während sie und Juliet im Winter darin spielen und sich vorstellen konnten, es sei ihre Burg. Heute führte ihre Schwester die Pension. Auf dem Fenster zur Straße, auf dem einmal Reggie‘s gestanden hatte, war heute Juliet‘s zu lesen. Libby fuhr langsamer, hielt aber nicht an. Sie würde noch genügend Zeit haben, ihre Schwester zu besuchen. Aber nicht jetzt. Nicht solange sie noch mit dem Gefühl der Fremdheit zu kämpfen hatte. An dem Ort, an den sie nie zurückkehren wollte. Niemals.
Die Straße gabelte sich. Eine Abzweigung führte zum Strand und dem Cottage, die andere weiter ins Landesinnere, durch den Vorort, in dem sie aufgewachsen war, und vorbei am Friedhof, auf dem ihr Vater begraben lag.
Libby setzte den Blinker und bog zum Friedhof ab.
Der Lighthouse Bay Lawn Cemetery war klein und schattig. Sie parkte an der Straße und ging den niedrigen eisernen Zaun entlang bis zum Tor. Es öffnete sich quietschend und fiel scheppernd hinter ihr ins Schloss. Einen Moment lang war sie verwirrt. Er war irgendwo hier, aber wo? Sie ging zwischen den Grabsteinen entlang und suchte nach dem vertrauten Namen. Um den Fischteich herum und den schmalen Pfad zum hinteren Zaun entlang. Dann endlich fand sie das Grab.
Reginald Robert Slater. 1938 – 1996. Ruhe in Frieden.
Wieder und wieder las Libby die schlichte Inschrift. Er war erst achtundfünfzig gewesen, als er starb, genauso alt wie Mark. Doch bei ihm hatte sie es als normales Alter empfunden, ein Alter, in dem man sterben konnte, hatte sie damals gedacht. Er war nicht lange krank gewesen, so dass sie gar nicht erst in Versuchung geriet, nach Hause zu fliegen und sich von ihm zu verabschieden. Sie war nicht einmal zur Beerdigung gekommen, es war einfach zu weit von Paris entfernt.
Auf einem Baum in der Nähe begann ein Metzgervogel zu singen und riss sie aus ihrer schuldbewussten Grübelei. Sie wünschte, sie hätte ein paar Blumen für das Grab mitgebracht, wusste aber, dass es eine leere Geste gewesen wäre. Sie schaute sich auf dem Friedhof um. Ihre Mutter lag auch hier, aber sie war vor Libbys zweitem Geburtstag gestorben, nur drei Tage nach Juliets Geburt. Libby konnte sich nicht an sie erinnern und hatte sie nie vermisst. Ihren Vater hingegen vermisste sie auf einmal sehr.
In der Ferne konnte sie das Meer hören. Plötzlich überkamen sie so starke und überwältigende Gefühle, dass sie fast in die Knie gesunken wäre: Trauer, Reue, schmerzhafte Liebe, kaltes Schuldgefühl. In den Tagen nach Marks Tod hatte sich Libby manchmal gefragt, weshalb sie noch am Leben war. Warum hatte der Schmerz sie nicht getötet? Es schien unmöglich, dass man sich so fühlen und dennoch nicht daran sterben konnte.
Doch sie ging weiter. Innerlich zerbrochen, aber immer noch atmend, bewegte sie ihren Körper vorwärts. Sie ging durch die Reihen der Gräber zum Auto und las dabei flüchtig die Inschriften. Die meisten Namen waren unbekannt. Doch unter den ausladenden Ästen eines Baumes fand sie einen, den sie gut kannte. Andrew Nicholson. Sie fragte sich, ob Juliet noch immer sein Grab besuchte.
Libby stieg ins Auto. Heute konnte sie es nicht ertragen, ihr gegenüberzutreten. Sie würde sich
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