Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
Wand komplett aus Schiebefenstern bestand. Es war als Atelier eingerichtet. Zwei leere Leinwände auf Staffeleien, mit Spinnweben überzogen. Plötzlich überwältigte sie die Trauer, und sie musste sich weinend auf den Boden setzen.
Als Mark das Cottage gekauft hatte, hatte sie sich gefragt, weshalb sie an einen Ort zurückkehren sollte, den sie unter gar keinen Umständen wiedersehen wollte. Doch in Wirklichkeit hatte er sich nur gewünscht, dass sie den Job bei Pierre-Louis aufgab und das Leben ein bisschen leichter nahm, sich entspannte und malte, wovon sie schon als Kind geträumt hatte. Und hier war nun alles: ein kleines Cottage, der Blick aufs Meer, ein Anfang. Doch Mark konnte nicht sehen, wie dankbar sie war, wie sehr sie diese Geste der Liebe zu schätzen wusste.
Libby weinte eine halbe Ewigkeit, bevor sie sich aufrappelte und die Tränen abwischte. Sie betätigte den Lichtschalter: nichts. Kein Strom. Sie ging in die Küche. Der leere Kühlschrank stand offen. Auch der Vorratsschrank war leer. Keine Reinigungsmittel oder Spültücher vorhanden. Sie brauchte eine Grundausstattung. Mit anderen Worten, sie musste einkaufen gehen. Je länger sie sich in der Stadt aufhielt, desto größer war die Gefahr, ihrer Schwester zufällig über den Weg zu laufen. Aber sie konnte sich noch nicht überwinden, zu ihr zu fahren. Noch eine Nacht darüber schlafen, dann wäre sie so weit. Definitiv.
Die klebrige Hitze machte sie müde. Libby wollte sich einfach nur zusammenrollen und schlafen, musste aber zuerst das Haus in Ordnung bringen. Sie zog ein ärmelloses Top und Shorts an, band das lange, dunkle Haar nach hinten und nahm ihre ganze Energie zusammen. Bei Sonnenuntergang war sie mit einer dünnen Schicht aus Schweiß und Spinnweben bedeckt. Sie spielte mit dem Gedanken, unter die Dusche zu gehen, doch dann fiel ihr ein, dass sie ja am Meer war. Also holte sie ihren Badeanzug und ging zum Strand hinunter.
Sie hatte viele Jahre in der Stadt gelebt, weit weg vom Meer, und war misstrauisch geworden. Wenn es nun Quallen gab? Oder Haie? Doch das blaugrüne Wasser war warm und klar und umspülte sie sanft. Sie watete bis zur Taille hinein und stürzte sich in eine Welle. Das Geräusch der Brandung wurde von dem Wasser verdrängt, das in ihren Ohren plätscherte. Dann tauchte sie auf und rang lachend nach Luft. Die Vorstellung, um diese Tageszeit im Meer zu schwimmen, war einfach unglaublich. In Paris würde sie jetzt Handschuhe und Schal anziehen, zur Metro gehen und sich zwischen die anderen Pendler zwängen. Hier am Strand war niemand außer ihr und einem Fischer, der einen halben Kilometer entfernt bis zu den Knöcheln im Wasser stand.
Sie ließ sich eine Weile auf dem Rücken treiben und von den Wellen tragen. Salzwasser auf den Lippen, ihr Haar breitete sich fächerförmig hinter ihr aus. Dann setzte sie sich in den Sand, um an der Luft zu trocknen. Die Dämmerung färbte den Himmel; grelles Rosa und Gold wichen allmählich einem dezenteren Violett und Zinngrau. Sie war wie in Samt gehüllt: der weiche Sand, der Dunst über dem Festland, die milde Brise und ihre eigene menschliche Weichheit, ihr Fleisch, ihre Muskeln und ihr schmerzendes Herz. Libby schloss die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, war der Fischer verschwunden, und es war Abend geworden. Sie stand auf und klopfte sich den Sand ab, bevor sie zum Cottage zurückschlenderte. Der Strand war durch einen Grünstreifen von der Zivilisation getrennt: Banksien, Schraubenbäume, Mangroven. Geisterkrabben huschten davon, als sie den Sandweg zur Straße hinaufging. Im Cottage stellte sie erfreut fest, dass der muffige Geruch verschwunden war. Die Meeresbrise strömte durch die Fenster herein und ließ die zarten Spitzengardinen flattern. Sie machte sich ein Sandwich mit Erdnussbutter, spülte das Salz unter kaltem Wasser ab und spielte mit dem Gedanken, eine Leinwand vorzubereiten und einige Farbtuben zu öffnen. Doch ihre Müdigkeit war größer, und sie legte sich stattdessen ins Bett.
Gegen elf wachte sie auf und fragte sich, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Ein Automotor. Sie lag im Dunkeln und horchte. Der Wagen schien im Leerlauf zu warten.
Sie stand auf und zog den Vorhang beiseite. Tatsächlich, auf der Straße vor ihrem Haus stand ein Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern und laufendem Motor. Bewegungslos. Libby schaute neugierig hinaus. Spürte ein ängstliches Kribbeln. Es war zu dunkel, um den Wagen zu erkennen, geschweige denn das
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