Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
sich auch sicher, dass Isabella auf dem Schiff war, ebenso wie der Schatz, den er im Wald vergraben hat.
Aber er wird nichts sagen. Noch nicht. Vielleicht nie. Sie hat ihm gestanden, dass sie davongelaufen ist. Er schickt ein Telegramm zurück und liefert die Informationen, um die sie gebeten haben. Mehr nicht. Nein, er hat das Schiff nicht gesehen. Sie haben von Cape Franklin gehört und werden sich denken können, was geschehen ist. Die Aurora ist verloren. Es gibt keine Überlebenden. Zumindest keine, die gefunden werden wollen.
Nachdem sie fünf Tage lang mit Schuhen und einem Dach über dem Kopf gelebt hat, sind Isabellas äußerliche Wunden fast verheilt. Der tiefe Schnitt an ihrem Hals ist nicht mehr blutunterlaufen, an ihrer Hand ist nur noch Schorf zu sehen, der Sonnenbrand schält sich und gibt frische weiße Haut frei. Sie ist damit beschäftigt, Messing und Silber zu polieren, zu fegen und zu wischen und aufzuräumen. Am Nachmittag hilft sie der Köchin bei der Vorbereitung des Abendessens und schickt Katarina eine gewaltige Mahlzeit nach oben, an der diese nur hier und da ein wenig knabbert. Sie isst gut, sie schläft gut, sie findet eine Nische für sich, für ein neues, provisorisches Leben. Es erinnert sie ein bisschen an die Stücke, die sie und ihre Schwester als Kinder für die Familie aufgeführt haben. Sie trägt eine Art Kostüm und spielt die Rolle von Mary Harrow, Kindermädchen und Hausmädchen. Und das macht sie gut, bis auf wenige Ausrutscher – etwa als sie zugibt, dass sie noch nie Messing und Silber poliert hat und nicht weiß, wie man die Vorhänge zum Waschen von der Stange nimmt.
Am Nachmittag hält ein leichter Einspänner vor dem Haus, worauf Katarina sofort eine Flut von Befehlen erteilt. »Das ist Mr. Fullbright«, sagt sie atemlos zu Isabella und der Köchin, die gerade am Küchentisch Erbsen schälen. »Ich möchte in einer halben Stunde den Tee.«
Die Köchin nickt und bedeutet Isabella aufzustehen. Katarina ist zur Tür gegangen, um ihren Mann und das Kind zu begrüßen, doch Isabella kann ihre Neugier nicht bezähmen und schaut aus dem Wohnzimmerfenster. Mr. Fullbright hat eine tiefe, dröhnende Stimme, doch der kleine Xavier hat gar keine. Isabella nimmt an, dass er da ist, einen Beweis hat sie noch nicht erhalten.
Sie und die Köchin holen den Rest des Früchtekuchens, den es zum Frühstück gab, schneiden Äpfel und Käse, kochen Tee, rösten Brot und träufeln Honig darüber. Dann eilt die Köchin mit einem Tablett hinaus und stellt es auf den Esstisch. Isabella zögert auf der Schwelle und wartet auf weitere Anweisungen.
»Mary, komm und begrüße Xavier«, ruft Katarina.
Isabella geht nach vorn. Mr. Fullbright, der sich gerade Butter auf seinen Früchtekuchen streicht, hält inne und schaut sie stirnrunzelnd an. »Wer bist du?« Er hat einen dichten schwarzen Schnurrbart, der sich so weit vorwölbt, dass es aussieht, als hätte er keine Oberlippe.
»Das ist Mary Harrow, unser neues Kindermädchen. Mary, mein Ehemann, Ernest Fullbright.«
Ernest Fullbright stupst den kleinen Xavier an. »Los, Junge, begrüße dein neues Kindermädchen.«
Xavier, der sich eng an seinen Vater gedrückt hat, wirft einen Blick auf Isabella und beginnt zu weinen. Sie spürt, wie wichtig der erste Eindruck ist, kniet sich vor ihn hin und ergreift sanft seine Hand. »Hallo, mein Kind.«
Xavier ist so entsetzt über die Berührung, dass er zu weinen aufhört und sie anstarrt. Seine Augen sind sehr dunkel. Isabella sieht die Angst in ihren tiefen Teichen. Sie versucht nicht, ihn aufzumuntern, sondern respektiert seine Gefühle. »Ich heiße Mary und werde sehr gut zu dir sein.«
Katarina nimmt ihre Hand von Xaviers. »Keine Umarmungen und so etwas.«
Xavier schaut auf seine Finger und dreht sie vor seinem Gesicht hin und her, als sähe er sie zum ersten Mal.
»Immerhin hat er aufgehört zu weinen«, murmelt Ernest in seinen Schnurrbart.
»Dafür sind Kindermädchen da. Dafür bezahlen wir Mary.«
Isabella kauert weiter vor dem Jungen und hält seinem Blick stand. »Wie alt ist er?«
»Er wird im Juli drei.«
Juli? Isabellas Herz schlägt schneller. »An welchem Tag?« Dabei denkt sie: Was, wenn es der 18. ist?
»Am 18.«, sagt Katarina.
Isabellas Gesicht bleibt regungslos, doch Xavier bemerkt die Veränderung in ihren Augen und beginnt schnell zu blinzeln, als wolle er wieder weinen. Der 18. Juli. Xavier ist am selben Tag geboren wie Daniel. Er steht vor Isabella, so hätte
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