Das Haus am Nonnengraben
eine Gewalteinwirkung sein. Bei einem natürlichen Tod wäre sie vermutlich vornübergesunken. Aber vor der Obduktion …«
»Ja, natürlich, ich weiß. Und was ist mit dem Todeszeitpunkt?«
»Den werde ich wohl auch nach der Obduktion nur ungefähr angeben können. Da spielen, wie Sie wissen, viele Imponderabilien eine Rolle. Warten Sie’s ab.«
6
Es war jetzt kurz nach zwölf Uhr, Zeit genug, um vor dem Mittagessen in der Staatsbibliothek noch etwas über das Haus am Nonnengraben herauszufinden. Natürlich hatte Hanna schon vor ihrem Besuch die wichtigsten Tatsachen über das Haus zusammengesucht. Aber in den Bamberger Blättern von 1914 gab es einen Artikel von einem früheren Bewohner, den sie ergänzend heranziehen wollte. Hanna wählte Tante Kunigundes Nummer.
»Hallo, wie geht es euch? – Ach, Will schläft. Und er hat brav getrunken. Danke für die Nachricht … Tante Kunigunde, bitte halt inne. Ich wollte dich nur fragen, ob ich zum Mittagessen kommen darf. Hättest du irgendetwas, um deine schwer arbeitende Nichte vor dem Hungertod zu bewahren? – Danke. Ginge es so um halb zwei? – Ja, natürlich, ich werde ganz leise sein, um Will nicht zu wecken.«
Hanna mochte den Weg hinauf zum Domberg: an der beherrschend aufragenden alten Burgmauer entlang, die durch allerlei kleine Pflanzen zwischen den Steinen alt und milde geworden war, und über die Karolinenstraße mit dem in der Luft hängenden Eingangsportal des einstigen Eyb’schen Domherrenhofs, das von rätselhaften Verkehrserleichterungen früherer Zeiten erzählte. Im Schatten der turmhohen Kurien stieg der Weg bergan. Und dann, oben hinter der Ecke, strömte dieser unglaubliche Platz heran, dieses Bilderbuch der Geschichte. Viele Leute hatten sie schon darauf angesprochen, dass der Domplatz so leer und kahl sei, aber Hanna schätzte gerade das: die großzügige Weite und hoheitsvolle Würde, wie das Innere eines Glockentons. Nachts konnte sie ihn hören, diesen Ton, im wassergrünen Licht der Dombeleuchtung. Jetzt aber war der Platz überwimmelt von Leben, Touristengruppen, die mit andachtsvollen Gesichtern an den Armen der Stadtführer entlang auf Dom, Alte Hofhaltung und Neue Residenz blickten, ein langsamer grüner Stadtbus, zwei Autofahrer, die an der Abzweigung zur Residenzstraße kurz anhielten, um sich zu unterhalten, Studenten, die auf dem Fahrrad über das reparaturbedürftige Pflaster holperten.
Hanna war verwundert, dass sie die vertrauten Bilder plötzlich so glasklar wahrnahm. Dieser Vormittag hatte das Gewohnte aufgebrochen und Innenseiten sichtbar gemacht. Sie stand und atmete. Schloss die Augen und öffnete sie wieder. Sie war noch da.
Eigentlich hätte der Tod ihr vertraut sein müssen. Fast alle Menschen, mit denen sich eine Historikerin beschäftigte, waren bereits tot. Aber in dem Moment, wo ihr Bewusstsein diese Menschen erfasste, erweckte sie sie wieder zum Leben: Geburt, Beruf, Heirat, Nachkommen – der Tod war nur eine Station in dieser Abfolge der Generationen, im steten Strom des Lebens, dessen Spuren in die Mauern führten, die sie untersuchte. Die Mauern waren durchdrungen von dem Geschehen, das sich in ihnen und um sie herum abgespielt hatte, getränkt vom Schrei der Geburt wie vom Seufzer der Krankheit, von den Essensdünsten in den Küchen und vom Pferdeurin in den Ställen, von bitteren Notwendigkeiten in den Alkoven und von Eitelkeiten in den Bohlenstuben; die Dachsparren bewahrten die Erinnerung an Wind und Regen, die Steine hatten Sonnenschein und Stürme gesammelt, in ihnen war das Gebrüll zündelnder Soldaten und die Sehnsucht nach Schönheit gegenwärtig. Zu diesem Leben in den Steinen gehörte der Tod als notwendige Grundmelodie. Doch er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem realen Tod, der sie an diesem Morgen angeblickt hatte wie eine Schrift im Spiegel. Sie wusste noch nicht, wie ihre Antwort darauf ausfallen würde.
Sie ging über das holperige Kopfsteinpflaster hinüber zur Neuen Residenz, jener »Unvollendeten« des barocken Fürstbischofs Lothar Franz von Schönborn, dem mitten im Bau das Geld ausgegangen war, weil er Krieg führen musste. So standen bis heute an einer der Ecken die Kragsteine in die Luft und warteten auf Anschluss. In einem Teil des Schlosses war die Staatsbibliothek mit ihren weltberühmten Handschriften untergebracht. Hanna fühlte sich hier zu Hause wie ein Vogel in der Luft. Sie ging gleich in den Lesesaal. Das war einer der Vorzüge des Sommers – man brauchte
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