Das Haus am Nonnengraben
Ihr Willkommenslächeln versickerte.
»Hallo«, sagte sie unsicher, »komm doch herein.«
Benno gab ihr nicht die Hand und folgte ihr nach einem kurzen Nicken in den großen hellen Wohnraum, der fast die ganze Grundfläche des Häuschens einnahm. Durch die Fenster sah man übers Wasser hinauf zum Dom. Unter Bennos kritischen Blicken kam Hanna ihr geliebtes Zimmer, das sie doch gerade aufgeräumt hatte, plötzlich ganz chaotisch vor: Sie sah die zurückgeschobene Tischdecke, neben der der Laptop auf dem ovalen Biedermeier-Esstisch stand, sie sah durch die halb geöffnete Küchentür das abtropfende Geschirr neben dem Spülbecken, sah überall auf dem Boden und auf allen Ablagen die Stapel von Büchern und Zeitschriften.
»Setz dich doch bitte.« Hanna wies verwirrt auf eines der Sofas.
Die beiden Samt- und Schaumstoffdinger waren zwar ungeheuer bequem – manchmal schlief Hanna hier sogar, wenn sie nach dem Fernsehen zu faul war, nach oben in ihr Schlafzimmer im Dachgeschoss zu gehen –, aber sie waren sehr niedrig, und Benno konnte mit seinen langen Beinen nur in einer ziemlich lächerlichen Position darauf sitzen, was seine Laune offensichtlich nicht verbesserte.
»Möchtest du etwas zu trinken?«, fragte sie zaghaft.
»Nein, bleib sitzen. Ich habe einige Fragen an dich.« Bennos Stimme klang hart und unfreundlich. »Eine Zeugin hat beobachtet, dass du heute früh um neun Uhr das Haus am Nonnengraben betreten hast. Dein Anruf bei mir erfolgte um elf Uhr dreiundzwanzig. Kein Mensch, der eine Leiche findet, wartet zweieinhalb Stunden, bis er die zuständige Behörde verständigt, es sei denn, er hätte dafür einen triftigen Grund. Was hast du in dieser Zeit getan?«
Hanna schaute auf ihre Hände. »Ich war im Garten, hinter dem Haus …« Warum war es plötzlich so schwer, die Wahrheit zu sagen?
»Du warst im Garten, so! Allein?«
Hanna betrachtete erstaunt den feindseligen fremden Mann vor ihr. Wo waren denn der schüchterne Charmeur von der Party und der unbestechliche Beamte von heute Mittag abgeblieben? Mit denen hätte sie reden können …
»Hanna, jetzt sag endlich, was los war. Die Spurensuche hat eindeutig ergeben, dass sich im Haus am Nonnengraben zwei Personen aufgehalten haben und dass du im Hinterzimmer mit jemandem zusammengetroffen bist. Wer war der Mann?«
»Was für ein Mann?«, fragte Hanna verblüfft.
»Hör zu, Hanna, es sieht so aus, als sei Frau Rothammer ermordet worden. Wenn der Mann etwas mit dem Mord zu tun hat, bist du in großer Gefahr!«
»Aber Frau Rothammer ist doch offenbar schon seit Langem tot; warum sollte der Mörder …«
»Was ist: Hast du dem Mann zur Flucht verholfen?«
»Da war kein Mann.«
»Jetzt hör schon auf zu lügen. Das hier ist keine romantische Geschichte, in der du einen Helden retten musst.«
Wovon sprach er denn nur? Was für eine romantische Geschichte? Und welcher Held? Etwas an Bennos Tonfall machte Hanna stutzig. Konnte es vielleicht sein, dass da eine Spur von Eifersucht im Spiel war auf jenen »Mann«, den sie angeblich gerettet hatte? Ein kleines Lächeln stieg in ihre Augen, nur in die Augen, aber die Wirkung auf Benno war unübersehbar. Seine Haltung wurde noch eisiger und unnahbarer. Hannas Selbstvertrauen kehrte zurück. Sie beschloss großmütig, ihn nicht länger zappeln zu lassen, und erzählte ihm von Tanja, der kleinen grünen Madonna, und von ihrem Kind und ihrer Odyssee und wieso sie im Haus am Nonnengraben untergeschlüpft war und warum sie so große Angst vor der Polizei hatte, erzählte zunächst mit mitleidiger Zärtlichkeit, allmählich aber immer stockender. Denn Benno blieb ein Block grimmigen Misstrauens, und unter seinem skeptischen Blick kam ihr Tanjas Geschichte immer unglaubwürdiger vor, wie ein kläglicher Haufen konstruierter Beschönigungen von verdächtigem Tun.
Als sie mit einem zögerlichen »Ja, so war es« endete, schnaubte Benno verächtlich. »Ach, so war das? Und du, du glaubst das alles?«
»Ja, tu ich. Wieso?«
»Das stimmt doch alles vorn und hinten nicht.«
»Was soll denn da nicht stimmen?«
»Zum Beispiel: Wie hat das Mädchen denn das Kind gekriegt? Allein im Gartenhaus? Hat sie mit den Zähnen die Nabelschnur durchgebissen, oder war sie im Krankenhaus und keiner hat nach Papieren und Krankenversicherung gefragt? Oder: Sie lebt angeblich monatelang von Diebstählen, obwohl da doch Geld sein muss. Wo ist denn das Geld, das die Eltern für das Haus gespart haben? Und diese Tante Doris müsste
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