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Das Haus am Nonnengraben

Titel: Das Haus am Nonnengraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Degen
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doch nicht. Das Mädchen, diese Tanja, wenn es sie gab – ganz sicher war er sich immer noch nicht, ob er den Mann aus dem Hinterzimmer völlig verabschieden sollte –, diese Tanja war die wichtigste Zeugin, auch wenn ihre Geschichte erstunken und erlogen war; vielleicht hatte sie den Mörder gesehen, steckte mit ihm unter einer Decke oder war selbst beteiligt. Jedenfalls war sie die erste und bisher einzige Spur in diesem Fall. Allzu viel hatten sie bisher schließlich nicht: einige wenige, nicht allzu deutliche Fingerabdrücke – da fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, Hanna zur Abgabe ihrer Fingerabdrücke einzubestellen, das würde er am nächsten Morgen erledigen.
    Aber er würde die Wahrheit schon aus dieser Tanja herausbekommen! Und er würde sie finden, verdammt noch eins! Er schlug mit der Faust auf das Brückengeländer. Plötzlich nahm er seine Umgebung wieder wahr. Wie war er nur hierher gekommen? Er stand auf der Geyerswörth-Brücke und starrte in das Wasser, das am Fuß des Wehrs sprudelte und schäumte. Im schrägen Abendlicht sah er die Linien im Holz des Geländers, Linien, die lange parallel liefen, bevor sie sich in einem Knoten verquirlten und eine neue Richtung nahmen.
    »Wenn du auf einem Weg nicht weiterkommst, dann versuch einen anderen«, hatte sein Vater oft zu ihm gesagt. Er war Polizist gewesen. Ein sehr guter Polizist und ein konsequenter und anständiger Mann, dessen Ratschläge Benno selbst während der Pubertät nicht ausgeschlagen hatte. Er drehte sich um und ging über die Brücke zur Staatsanwaltschaft.
    In seinem Büro setzte er sich an den Schreibtisch und zog den Aktenwagen mit dem Material, das die Spurensicherung aus dem Schreibtisch im Wohnzimmer der Toten geborgen hatte, zu sich heran. In der ersten Schachtel waren Briefe, stapelweise Briefe an den »Lieben Arthur«, ein kleines Bündel an die »Liebe Elfi«, der letzte aus dem Jahr 1995 von »Deiner Dich liebenden Freundin Ellen«. Seit so vielen Jahren kein weiterer Brief? Als Nächstes zwei Schuhkartons voller Fotos. Wo nahm die Spurensicherung nur all diese Schuhkartons her? Auf den meisten Fotos war eine sehr schöne Frau zu sehen, und Benno brauchte eine Weile, bis er diese Frau mit der Toten am Küchentisch in Verbindung brachte, bis er begriff, dass es sich bei der Frau auf den Fotos um Elfi Rothammer handelte: Elfi mit Kopftuch und Sonnenbrille in der geöffneten Tür eines Porsche, Elfi in Caprihose und weit ausgeschnittenem Top auf der Kühlerhaube des Porsche, Elfi mit Bikini an einem weißen Sandstrand, Elfi mit riesigem Hut und elegantem Kostüm vor Pferden im Hintergrund, Elfi im langen Samtkleid in Bayreuth. Viel Geld war auf diesen Bildern zu sehen: teure Kleider, teure Schuhe, teurer Schmuck, Autos, Segelyachten, Urlaubsorte und immer wieder das Haus am Nonnengraben, die Treppe, die Antiquitäten, der Garten, gepflegt, geschmückt und vorgezeigt.
    Benno nahm eines der kleinen braun- und blaustichigen Fotos mit den gezackten Rändern nach dem anderen in die Hand und überlegte, woher sein wachsendes Unbehagen kam, eine namenlose Traurigkeit, die rund um die Lichtpfütze seiner Schreibtischlampe aufstieg wie Nebel. Auf einigen wenigen Bildern war ein Mann zu sehen: groß, schlank, elegant, mit einem Gesicht, das vor lauter Beherrschung hochmütig wirkte. Das musste Herr Rothammer sein. Nur auf zwei Fotos war er allein abgebildet, auf den anderen posierte er mit dem, was er auf den übrigen Bildern präsentierte: sein Haus, seine Autos, sein Pferd und seine Frau, ein schöner Gegenstand wie die anderen. Jetzt wusste Benno, was ihn so traurig machte. Die Frau auf den Bildern wirkte wie die Models in den Modezeitschriften – gezeigt wurden die Kleider und der Schmuck und die Frisur, aber nicht der Mensch.
    Benno holte sich den nächsten Karton auf den Schreibtisch, auf dessen Deckel »Von der Schreibtischplatte« stand. Er enthielt lediglich ein paar Werbeprospekte und einen kleinen Zettel mit der Aufschrift »Für das Mädchen und den Kleinen«. Deutlich interessanter war die Schachtel, die den Inhalt der Schreibtischschublade mit den amtlichen Dokumenten barg. Benno hatte das schon bei der Untersuchung einer Reihe von Nachlässen beobachtet: Mit Schubladen konnten die Menschen etwas anfangen, Ordnung in ihr Leben bringen – eine Schublade für Rechnungen, eine für Garantiescheine und Gebrauchsanweisungen, eine für Offizielles und eine für Krimskrams, der in keine Kategorie passt. Die »offizielle«

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