Das Haus am Nonnengraben
Gummireifen, der einen wolkenweich davontrug und mit dem man mit ein- oder zweimal Antreten die halbe Gabelsbergerstraße entlangrollte. Die Jungs fragten schon mal mit ihrer komischen Aussprache: ›Darf ich auch mal rollen?‹, aber die Mädchen standen in ihren geblümten Schürzen neben den Barackentüren und sahen nur zu.«
Hier brach der Text ab. Hanna legte ihn sorgsam in die Schublade zurück und griff nach der Schachtel mit Briefen, die Kürtchen ihr am Abend zuvor anvertraut hatte. Es war eine große, silbrig glänzende Metalldose, die einst Nürnberger Lebkuchen enthalten hatte, mit geprägten Verzierungen und dem Bild einer Postkutsche auf dem Deckel. Die Schachtel war randvoll mit jahrgangsweise gebündelten Briefen, Päckchen für Päckchen umwunden mit roter Schnur. Hanna suchte nach dem ältesten Jahrgang, wickelte sorgsam die Schnur ab und faltete den ersten Brief auf. Karlas Handschrift war klar und groß und verhältnismäßig leicht zu lesen.
»Liebes Kürtchen, bitte verzeih mir, dass ich neulich in aller Herrgottsfrüh verschwunden bin, ohne mich von Dir zu verabschieden. Ich konnte mit niemandem reden, mit niemandem! Ich war so voller Zorn und Unglück. Wie konnte er das sagen, ›sein‹ Haus? Es war doch immer unser Haus. Und wenn er es dreimal geerbt hat – es ist doch unser Zuhause, unser Elternhaus gewesen. Gewesen – siehst Du, jetzt schreibe ich es schon selbst. Etwas ist kaputtgegangen, ist wohl für immer Vergangenheit. Aber ich bin noch nicht fertig damit, es tut immer noch so teuflisch weh. Arthur ist ein alter Traumtänzer. Wie kann er nur glauben, dass Elfi und ich ›Schwestern‹ sein könnten oder Freundinnen! Pah! Es gibt kaum jemanden, bei dem ich mir das so wenig vorstellen kann wie bei ihr! Ich werde ihr nie verzeihen, dass sie ihn mir weggenommen hat, um ihn in einen solchen Hampelmann mit Sonnenbrille und Porsche zu verwandeln. Sie kennt Arthur doch gar nicht. Warum nur, warum hat er sie geheiratet? Ich versteh’s nicht und versteh’s nicht. Ich sitze halbe Tage hier herum und heule. Ich hoffe, Dir geht es gut. Deine Karla.«
Im April kam Karlas Kind in einer Münchner Klinik zur Welt. Es war ein Junge. Sie nannte ihn Arthur. Er starb nach drei Wochen. Karla litt sehr. Kürtchen war offenbar zu ihr gefahren und eine Weile bei ihr geblieben, wofür Karla sich mehrfach bedankte. Aber ihre Sehnsucht nach Arthur blieb quälend lebendig; das wurde in jedem einzelnen Brief der folgenden Jahre deutlich. Es dauerte lange, bis sie wusste, wieso; bis sie die Erkenntnis zulassen konnte, dass sie ihn nicht als Bruder liebte, sondern als Mann.
»… ganz langsam komme ich dahinter, was mit mir los ist. Ich habe viel gelesen inzwischen, Psychologiebücher und Biographien berühmter Schwestern und Brüder, Dorothy und William Wordsworth, Carla und Heinrich Mann … Du bist so eine kluge Frau. Seit wann weißt Du es? Wie konnte ich all die Jahre nur so blind sein? O Gott, was soll ich denn jetzt nur anfangen? Manchmal denke ich, ich werde verrückt, wie so viele Schwestern berühmter Männer. Das scheint der einfachste Weg zu sein. Aber irgendwie gelingt mir nicht einmal das. Schreib mir bald, bitte, bitte, erzähl mir von ihm, ich brauch es so dringend!«
»Ach Kürtchen, ich geb mir ja Mühe, ich mühe mich und mühe mich, ich bin schon ganz wund und aufgeribbelt. Aber all diese jungen Männer, die ständig angehoppelt kommen – weißt Du, es ist halt keiner wie Arthur, auch nicht im Entferntesten. Nach drei Sätzen find ich sie schon zum Erbrechen langweilig oder lächerlich oder lästig oder lodenhosig, 1,1,1,1, lauter Nullen.«
»Liebes Kürtchen, kannst Du Dich noch an unseren großen alten Steifbären Bubu erinnern, der auf so einem Brettchen stand und unten Rädchen zum Ziehen hatte? So einen habe ich gestern hier in einem Antiquitätengeschäft für sündhaft teures Geld gesehen, er war genauso abgeliebt wie Bubu damals. Wo ist er eigentlich hingekommen? Weißt Du noch, wie oft wir abends mit ihm in Dein Zimmer kamen? Du hast uns vorgelesen und das Türchen vom Ofen offen gelassen, damit man den roten Schein des Feuers sehen konnte. Arthur und ich saßen auf dem Bären, ich vorne und Arthur hinter mir, und er hat mir die Haare gebürstet, was sonst Du hättest machen müssen, mit langen, gleichzeitig festen und weichen Strichen, den ganzen Rücken hinunter. Ich habe Bubu vor Wonne fast die Ohren abgezupft. Ich gäbe meine halbe Seele, wenn ich das noch einmal erleben
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