Das Haus am Nonnengraben
entsteht ein neuer Mensch mit allen Möglichkeiten des Lebens. Die Fantasie ist schon ein lustiger Vogel, der rätselhafte Kurven fliegt. Ich träume, dass er Präsident werden könnte oder Astronaut oder Künstler oder Revolutionär. Natürlich denkt man immer nur gute Dinge. Zu den Möglichkeiten gehört ja auch, dass er ein Betrüger würde oder ein Mörder, aber das kann man sich einfach nicht vorstellen. Ich kann es nicht einmal umgekehrt: dass die Terroristen und Mörder, die ich im Fernsehen sehe, einmal winzige Embryos im Bauch ihrer Mutter waren. Für meinen winzigen Embryo sind die äußeren Umstände zwar ein bisschen schwierig, aber das packe ich schon. Ich bin versetzt worden und habe eine neue Wohnung. In drei Wochen ziehe ich um. Meinst Du, Du kannst Dich freimachen und mir ein bisschen helfen? Du kannst Arthur doch sagen, Du müsstest zu Deiner Cousine oder so was. Wehe, Du verrätst etwas.«
Die Schwangerschaft wurde schwierig. Berichte von Blutungen, Krankenhausaufenthalten, die Bitte, bei der Geburt dabei zu sein. Danach viele Briefe mit Kinderbegeisterung: Joschi war so süß, Joschi konnte schon dies, Joschi konnte schon das. Das erste Lächeln, der erste Zahn, Krabbeln, Stehen, das erste Wort.
»Komm an Weihnachten zu uns. Lass Arthur und Elfi ihre blöde Party doch allein feiern. Du kannst wirklich an Weihnachten freinehmen und zu Deiner Familie gehen, darauf hast Du ein Recht. Komm zu mir und Joschi. Es ist so traurig, allein unterm Weihnachtsbaum zu sitzen. Und Joschi braucht eine Großmutter, wenn er schon keinen Vater hat.«
Das wurde zur wiederkehrenden Einrichtung, wie Mitteilungen über Weihnachtsvorbereitungen, die Bitte um das Mitbringen bestimmter Plätzchensorten und Ähnliches in den nächsten Jahren zeigten. In die Bewunderung für das Kind mischte sich jetzt manchmal Sorge. »Joschi ist ein bildschönes Kind geworden. Die Leute bleiben auf der Straße stehen, um ihm nachzusehen mit seinen mandelförmigen, leuchtend grünen Augen und seinen langen blonden Locken. Er sieht immer mehr wie Mutter aus. Ich hoffe allerdings, er hat nur ihre Schönheit geerbt und nichts vom Rest. Die Kindergärtnerinnen haben ziemlich viel Ärger mit ihm.«
Sie heiratete Walter Schneider, der sich schließlich doch hatte scheiden lassen; sie bauten ein Haus; sie weigerte sich weiterhin, mit Arthur Kontakt aufzunehmen. Walter und Joschi kamen immer weniger miteinander zurecht. Der Sohn ertrug es nicht, dass die geliebte Mutter plötzlich einen fremden Mann in ihr Bett mitnahm, in dem er fünf Jahre lang hatte schlafen dürfen. Er machte Schwierigkeiten in der Schule, prügelte sich und stahl. Schließlich kam er in ein Internat, Walter hatte darauf bestanden. Karla flüchtete sich immer öfter in lange Reisen. Sie wurde krankgeschrieben und ging für zwei Monate nach Gomera, in eine einsame Berghütte ohne Telefon.
»Nein, nein, Kürtchen, ich glaube es nicht, ich glaube es einfach nicht. Sag, dass es nicht wahr ist! Es kann nicht wahr sein, es kann doch nicht wahr sein!!! Und ich war nicht da! Ich war nicht mal zur Beerdigung da! Er kann doch nicht verschwinden, einfach so. Und ich bin auf die Insel gefahren, um zu mir selbst und zur Ruhe zu finden. Oh! Oh, ich war schon lang nicht mehr so ruhig wie jetzt. Ich laufe schreiend durchs Haus, und meine Lippen sind schon ganz blutig. Liebes Kürtchen, Liebe, wie geht es denn Elfi? Seltsam, jahrelang habe ich nicht an diese Frau gedacht, und jetzt überlege ich mir, wie sie wohl den Tod ihres Mannes – da, das habe ich geschrieben – ihres Mannes … Noch nie habe ich … er hat sie ja geheiratet, aber dieses ›ihres Mannes‹, das hat so eine feste Form, so eine Gewissheit über die Leidenschaft hinaus. Wieso sehe ich ihn plötzlich so? Ich will kommen und sein Grab besuchen. Liegt er in der Familiengruft? Aber ich kann nicht bleiben, ich fahre gleich wieder weg. Weißt Du, ich will … ach, jetzt habe ich es vergessen. Ich bin schon ganz wirr im Kopf. Dauernd sehe ich das brennende Auto, und jemand schreit.«
»Liebes Kürtchen, gestern kamen seine Bücher und Papiere hier an. Ich werde ganz schön zu tun haben, bis ich alles sortiert und aufgeräumt habe. Du hast das Grab wunderschön bepflanzt. Danke! Joschi geht es ganz gut im Internat. Seine Lehrer machen mir Hoffnung. Walter ist als Austauschlehrer nach Saudi-Arabien gegangen. Ich fange in zwei Wochen wieder an mit dem Unterricht.«
»Ach Kürtchen, Kürtchen, ich habe seine Gedichte gelesen.
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