Das Haus am Nonnengraben
könnte. Wie geht es ihm?«
»Liebes Kürtchen, Du schreibst, er sei so unglücklich. Ist es nicht verrückt: Es zerreißt mir das Herz, und gleichzeitig macht es mich glücklich. Obwohl ich ihm doch alles Glück der Welt wünsche, wäre ich doch unglücklich, wenn er glücklich wäre, während ich seinetwegen so unglücklich bin. Was für ein fürchterliches Durcheinander! Außerdem ist es widerlich: Verzweiflung ist wie eine Krankheit – man kann nur noch an sich und seinen Schmerz denken und von nichts anderem mehr sprechen oder schreiben. Es ist sicher Monate her, seit ich Dich das letzte Mal gefragt habe, wie es denn Deinem Bruder geht. Er war immer so nett, wenn Arthur und ich ihn auf seinem Pfarrhof besucht haben. Kannst Du Dich noch erinnern, wie Arthur sich mal in die Kirche geschlichen und mitten am Tag die Glocken geläutet hat, und alle Leute kamen gelaufen, weil sie dachten, es sei ein Feuer ausgebrochen oder ein Krieg? Ich habe mir damals vor Lachen in die Hosen gepinkelt. O Gott, warst Du böse mit uns. Fährst Du Ostern wieder hin?«
Dann monatelang Briefe über Bergtouren, Studienkollegen, eine neue Freundin, mit der sie »Kleider kaufen und herrlich herumalbern« konnte. Und immer wieder »Wie geht es ihm?« und »Schreib bald!«.
Dann war da plötzlich eine Lücke in der Abfolge der Briefe, eine Lücke von fast zwölf Monaten. In dem Bündel von 1964 gab es nur einen einzigen Brief.
»Liebes Kürtchen, wie konntest Du mir, wie konntest Du uns das antun? Warum nur hast Du ihm meine Adresse gegeben? Ich hatte gerade angefangen, wieder ein bisschen zu leben, da stand er plötzlich vor der Tür. Es war sehr schrecklich, glaub mir. Ich kann ohne ihn überleben, aber ihn sehen, nein, das geht nicht. Ihn sehen, ohne ihn berühren zu dürfen, das kann ich nicht. Ich kann es nicht!«
Hanna setzte sich auf und sah auf ihre Uhr. Zehn Minuten nach sechs. Sie las jetzt schon fast eine Stunde in Karlas Briefen. Sie konnte gar nicht aufhören. Ein Päckchen nach dem anderen schnürte sie auf, faltete sorgfältig die Briefe auf und bündelte sie wieder. Inzwischen konnte sie Karlas Handschrift mühelos lesen und überflog die weniger wichtigen Passagen. Aber dazwischen waren Stellen, die las sie zwei-, dreimal, mit einem Würgen in der Kehle. Wie viel Zeit hatte sie noch? Sie stand auf, weil sie zur Toilette musste, und überdachte dabei ihren Tagesplan. Heute Nachmittag hatte sie einen Termin in München, einen Besuch bei Herrn Dechant, einem pensionierten Gymnasiallehrer. Er war der Nachfahr einer Bamberger Gärtnersfamilie und daher Eigentümer verschiedener Immobilien, die sie für ihr Kellerkataster bearbeitete. Vor allem aber besaß er Unterlagen zum Haus am Nonnengraben, ganz frühe Quellen aus der Zeit, als die Dechants noch Oberhofgärtner des Fürstbischofs gewesen waren. Er hatte ihr die Unterlagen in seinem Besitz nicht schicken wollen, und so hatte sie mit ihm vereinbart, sie bei ihm einzusehen. Und mit sich selbst hatte sie vereinbart, sich anschließend einen freien Tag in den Bergen zu gönnen, da sie heuer noch keinen Urlaub gehabt hatte. Am Vormittag waren keine weiteren Termine eingeplant. Sie hatte Liegengebliebenes aufarbeiten, dann packen und rechtzeitig losfahren wollen. Aber der Termin war erst um fünfzehn Uhr. Wenn sie für die Fahrt nach München drei Stunden einrechnete, und das war reichlich, musste sie um zwölf Uhr aus Bamberg wegfahren. Sie hatte also noch Zeit. Das Liegengebliebene konnte noch ein bisschen weiter liegen bleiben. Später wollte sie mal in der Redaktion anrufen, wie denn ihr Artikel angekommen war. Mit Tante Kunigunde musste sie auch telefonieren. Und dann war da noch die Sache mit Benno. Dieser Mistkerl! Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. So schaltete sie den Anrufbeantworter ein, kuschelte sich mit einem wohligen kleinen Seufzer wieder in ihre eigene Wärme und griff nach dem nächsten Brief.
»Ich habe einen sehr netten Mann kennengelernt. Er ist Geografielehrer an meiner Schule, und wir können wunderbar miteinander reden. Er ist groß und sportlich und hat gute Hände. Und er geht genauso gern in die Berge wie ich.«
Doch Walter Schneider war verheiratet, und er blieb es auch, als Karla von ihm schwanger wurde.
»Liebes Kürtchen, stell Dir vor, ich kriege wieder ein Kind. Ich freue mich so! Es ist ganz anders als beim letzten Mal. Diesmal ist es ein unglaublich wunderbares Gefühl. Ich leg die Hand auf meinen Bauch und denke: Da drin
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