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Das Haus am Nonnengraben

Titel: Das Haus am Nonnengraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Degen
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Ich bin völlig verzweifelt. Ich kann es nicht aushalten. Du hast ihn doch gekannt. Hast Du das gewusst? Solche Gedichte? So viel … So viel Weh? Weißt Du, wenn ich sie aufschreibe für Dich, wenn ich sie mit Dir teile, Dir mitteile … Ich kann es alleine nicht ertragen. Vor drei Jahren schrieb er:
     
    Wo bist du nur?
    In meinem Berg aus Einsamkeit sitze ich mit festgewachsenem Bart, ein Stein unter Steinen.
    Laokoon, Barbarossa, Sisyphus.
    Sand rieselt aus meiner Hand.
    Die Stalaktiten wachsen durch mein Gehirn in meine Zunge und du hinderst sie nicht.
     
    Ich habe lange gebraucht, bis ich begriffen habe, dass das ›Du‹ dieser Gedichte ich bin, oder vielmehr ich und er zusammen, als Einheit.«
    »Liebes Kürtchen, weißt Du, ich wollte es nicht wissen. Ich wollte nicht wissen, dass er mich liebt, so sehr liebt wie ich ihn. Er hatte doch das Vertrauen gebrochen, er hatte doch diese Elfi geheiratet. Aber am Tag seiner Hochzeit hat er dieses Gedicht geschrieben › Für Karla, mein All ‹ . Stell Dir vor, am Tag seiner Hochzeit.
     
    Karla, du meine Schöne, du mein Ego und mein All.
    Ich bespucke und verhöhne dich, du Teufel im Kristall.
    Nicht, dass ich mich nach dir sehne, du mein Ego und mein All.
    Folter ist nur eine Lehne
    Vor der Sehnsucht hohem Wall.
     
    Ich habe es nicht gewusst, ich hab’s doch nicht gewusst. Ich dachte doch, nur ich … Ich dachte doch, wenn ich weggehe … Ich wollte es doch recht machen! Und jetzt … Acht Tage vor seinem Tod, acht Tage:
     
    Ich spreche nur noch mit Nebeln
    Nebel in meinen Augen
    Nebel in meiner Feder
    Nebel in meinen Tagen und Tod in den Nächten.
    Und die Sonne will und will nicht kommen.
     
    Kürtchen, ich weiß nicht, wie ich überleben soll.«
     
    Joschi wurde zum allgemeinen Erstaunen plötzlich gut in der Schule. Er lernte fleißig und arbeitete effizient. Für seine besseren Noten verlangte er von seiner Mutter Geld, und sie gab es ihm, froh über dieses kleine Stückchen Helligkeit. Irgendwann starb Walter, ohne dass es weiter auffiel. Joschi machte sein Abitur mit 1,5, wurde Zahnarzt und eröffnete eine erfolgreiche Praxis in München. Mit seiner Mutter hatte er kaum noch Kontakt.
    Karla, die ihm das Haus überlassen hatte, lebte pensioniert in einer hübschen kleinen Wohnung in Haidhausen, kämpfte ein Jahr lang mit Brustkrebs und starb einundzwanzig Jahre, sechs Monate und zwei Tage nach ihrem Bruder, wie Kürtchen auf dem letzten Briefumschlag notiert hatte.
     
    Als Hanna aufstand, war es schon fast neun Uhr. Sie hatte nicht in der Redaktion angerufen, sie hatte nicht gefrühstückt, und sie hatte nicht an Benno gedacht. Ihr war etwas schwindelig nach der langen, aufwühlenden Lektüre. Arme Karla, armer Arthur! Wie grausam das Schicksal manchmal sein konnte. Während sie ihr Frühstück zubereitete, dachte sie weiter über die Geschwister nach. Ob es wohl eine Verbindung zwischen ihnen und dem Mord an Elfi Rothammer gab? Wenn sie sich recht erinnerte, dann waren alle Personen aus dieser Geschichte bereits tot, bis auf eine: Joschi, Karlas Sohn … und Elfis Erbe. Joschi Schneider, Zahnarzt in München.
    In München! Hanna schaute auf die Uhr und begann zu rechnen. Wenn sie sich sehr beeilte, konnte sie es vielleicht schaffen, der Praxis Schneider sogar noch vor ihrem Termin bei Herrn Dechant einen Besuch abzustatten. Einen Vorwand würde sie schon finden; das konnte sie sich auf der Fahrt ausdenken. Irgendwo musste sie ja anfangen, wenn sie Tanja entlasten wollte. Und ein Erbe war doch immer hinreichend verdächtig.
    Ihr Wunsch, Benno etwas zu beweisen, war zwar nicht mehr so brennend wie am Abend zuvor, aber immer noch stark genug, um ihr die nötige Energie zu geben. Sie holte ihr Köfferchen aus dem Schrank und fing an zu packen. Doch bevor sie losfuhr, musste sie sich unbedingt noch eine Absolution holen.
    »Guten Morgen, Tante Kunigunde. Wie geht es dir?«
    »Gut. Und dir?«
    »Ach, da ist etwas Schreckliches.«
    »Schon wieder? Lass das nicht zur Gewohnheit werden, Kind. Du hast erst gestern eine Leiche gefunden.«
    »Nein, nicht so schrecklich. Aber … also ich wollte dich fragen, ob ich dich heute und morgen mit Tanja und Will allein lassen kann.«
    »Aber sicher, wir kommen gut zurecht. Mit Will ist das sowieso kein Problem, und Tanja wird schon noch. Momentan ist sie noch ein bisschen scheu, aber das ist ja auch kein Wunder.«
    »Hat sie dir erzählt, was ihr passiert ist?«
    »Nicht alles. Sie fürchtet sich noch vor mir.«
    »Sei

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