Das Haus am Nonnengraben
wussten.
Bolz war ein kleiner Mann mit wenig Kinn, dafür einem umso ausgeprägteren Gespür für seinen persönlichen Vorteil. Er kämmte seine dünnen Haare von einem Scheitel zwei Zentimeter über dem linken Ohr auf die andere Seite seines dreieckigen Kopfes, pflegte mit Hingabe sein feines Schnurrbärtchen und war so glatt und schleimig wie eine Nacktschnecke, nur nicht so hübsch. Er hatte verschiedene Verwaltungsstellen in der Stadt durchlaufen und überall seine unheilvollen Spuren hinterlassen. Stets hatte man ihn nach einiger Zeit fortgelobt, weil man ihn anders nicht loswurde, und so war er schließlich bis zum Stadtdirektor aufgestiegen. Er nahm völlig ungeniert vermeintliche Rechte für sich in Anspruch, parkte seinen Wagen im Halteverbot, ohne Strafe zu zahlen, ließ städtische Arbeiter auf Kosten der Stadt in seinem Garten schuften, und Benno war fest davon überzeugt, dass bei einer großen Anzahl von Bauprojekten Bestechungsgelder in Bolzens Taschen gewandert waren. Aber er hatte Freunde in allen wichtigen Kreisen der Stadt und kam irgendwie immer ungeschoren davon.
Benno nahm die Spur der verschwundenen Akte also mit frohem Jagdhundschnüffeln auf. Er beschloss, zunächst einmal Rechtsanwalt Norbert Böschen aufzusuchen, um das Terrain zu sondieren.
Böschens Sekretärin sagte ihm, der Herr Rechtsanwalt sei momentan bei Gericht, aber um zwei Uhr könne sie ihm einen Termin reservieren.
Die Sekretärin des Stadtdirektors dagegen war ganz untröstlich, weil sie dem Herrn Staatsanwalt überhaupt keine Hoffnung für den heutigen Tag machen konnte, denn noch sei der Herr Stadtdirektor in Bayreuth und käme ganz knapp zurück, um ab vierzehn Uhr die Sitzung des Bausenats zu leiten. Der Bausenat hätte eine sehr umfangreiche Tagesordnung, und man wisse nicht, wie lange sich das hinzöge. Aber morgen, Mittwoch, um neun Uhr könne der Herr Stadtdirektor ein paar Minuten für ihn erübrigen. Benno knirschte mit den Zähnen, bedankte sich freundlich und wandte sich seufzend seinen Aktenstapeln zu.
Gegen Mittag besuchte er Dr. Last in der Gerichtsmedizin. Das Zentraljustizgebäude am Wilhelmsplatz war 1903 als einer jener »Justizpaläste« erbaut worden, die die Bedeutung der neuen Rechtsordnung repräsentieren sollten, mit Freitreppen, wuchtigen Säulen am Eingang und hallenden Gängen. Der Weg zu den Leichen in den Kellergewölben gewann durch den gerade laufenden Umbau mit den überall hängenden Plastikplanen nicht gerade an Heimeligkeit.
Dr. Last nickte Benno nur kurz zu. »Ich sitze gerade über dem Obduktionsbericht. Sie hätten sich nicht extra herbemühen müssen, Sie hätten ihn noch heute Nachmittag auf dem Tisch gehabt.«
»Ich habe sowieso im Gericht zu tun und wollte nur mal kurz schauen, wie Sie vorankommen. Und?«
»Allzu viele Erkenntnisse ließen sich nicht mehr gewinnen«, sagte Last sarkastisch. »Die Wüste lebt. In diesem Fall die wüste Leiche – sie besteht zu etwa siebzig Prozent aus Maden. Wenn Sie mit mir hinüber in den Sezierraum kommen, kann ich Ihnen die Einzelheiten zeigen.«
»Ach, es genügt mir schon, wie Sie sie schildern.«
Last grinste. »Also gut. Die Leiche war weiblichen Geschlechts, etwa fünfundsechzig Jahre alt und körperlich, soweit festzustellen, gesund.«
Seltsam, dass alle Zeugen von ihr als einer »alten Frau« gesprochen haben – mit fünfundsechzig ist man heutzutage doch keine alte Frau, dachte Benno und fragte: »Und was wissen Sie über die Todesursache?«
»Es hat ein Angriff gegen den Hals stattgefunden. Die Kehlkopfhörner sind abgebrochen, ein sicheres Zeichen dafür, dass eine maßgebliche Gewalt auf den Hals eingewirkt hat.«
»Auf Deutsch – sie wurde erwürgt? Nicht mit dem Schal erdrosselt, sondern mit den Händen erwürgt?«
»Ja, das zeigen die abgebrochenen Kehlkopfhörner, wie gesagt. Der Druck auf die entsprechenden Nervenstrukturen hat zum Herzstillstand und zum sofortigen Tod geführt.«
»Hat sich die Tote, ich meine, Frau Rothammer – also hat sie sich denn nicht gewehrt?«
»Schwer zu sagen. Reste unter ihren Fingernägeln waren kaum zu gewinnen, und die Analyse dauert noch.«
»Und was sagen Sie zum Todeszeitpunkt?«
»Vor etwa drei Wochen.«
»Geht’s nicht ein bisschen genauer?«
»Nein. Sie wissen doch, eine exakte Fixierung der Stunde des Exitus geht nur im kurzen postmortalen Zeitraum, wenn noch eine rektale Temperaturmessung im Vergleich zur Raumtemperatur möglich ist. Bei einem so langen Zeitraum wie
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