Das Haus am Nonnengraben
Ihnen meine Tasse anbieten, ich habe sie noch nicht benutzt. Ich finde immer, wirklich gut schmeckt Tee nur aus feinem Porzellan, nicht wahr?«
Er schraubte die Thermoskanne auf, schenkte für Hanna Tee in die Tasse und für sich in den Deckel der Kanne und reichte ihr den Pappteller mit dem Kuchen, als wäre er ein Silbertablett.
Hanna kam aus dem inneren Kopfschütteln gar nicht mehr heraus und dachte, dass niemand besser in Tante Kunigundes Wohnstube mit den Spitzenvorhängen passte als dieser kleine würdige Herr. Mit einem stummen Seufzer verabschiedete sie sich von dem komischen Bild des in breitem Fränkisch schimpfenden Mannes im speckigen Arbeitsoverall, das ihr bei Tante Kunigundes Erzählung vorgeschwebt hatte. Herr Ernst sprach kein Fränkisch, sondern ein sehr präzises, etwas gestelztes Hochdeutsch, in dem tief im Untergrund leise ein ostpreußisches »R« grummelte.
»Der Kuchen schmeckt wunderbar«, begann Hanna die Unterhaltung, denn Herr Ernst schien sie kurzfristig vergessen zu haben.
»Ja, er ist nicht schlecht, aber nichts im Vergleich zu den Kuchen Ihrer Frau Tante«, meinte Herr Ernst. Er schien den Geschmack des Kunigunden-Kuchens auf der Zunge zu spüren.
»Wie still es hier ist.« Hanna fragte sich, wie sie ihn je zum Reden bringen sollte, wenn er dauernd in seine Erinnerungen entglitt.
»Ach, warten Sie nur eine Stunde, wenn die Baufahrzeuge zurückkehren. Dann ist hier die Hölle los. Aber jetzt, ja, Sie haben recht, bei Sonnenschein herrscht hier eine ganz besondere Stimmung. Ich nenne diese Zeit für mich immer die Stunde des Pan. Auch wenn ich natürlich weiß, dass damit etwas anderes gemeint ist.«
Natürlich. Ein einfacher Arbeiter, hatte Tante Kunigunde gesagt. Hanna fiel von einem Erstaunen ins andere.
Herr Ernst nahm jetzt von sich aus den Faden wieder auf. »Ihre Frau Tante ist eine wunderbare Frau. Auch meine tägliche Teepause«, er wies mit einer eleganten Handbewegung auf das Arrangement vor sich, »ist auf sie zurückzuführen. Als wir damals bei ihr waren, um das Dach ihres Hauses neu zu decken, wobei sie strikt darauf achtete, dass wir jeden der alten Ziegel, der noch gut war, wiederverwendeten«, er lächelte versonnen und schüttelte leicht den Kopf, »sie war übrigens die Einzige, die je von sich aus erkannt hat, wie wichtig das für die Dachlandschaft der Altstadt ist, also, wir waren damals drei Wochen bei ihr beschäftigt, und am Nachmittag lud sie mich immer zu einer Teepause ein, um mit mir die Angelegenheiten bezüglich des Daches zu besprechen.«
Das darf doch nicht wahr sein, dachte Hanna, »bezüglich des Daches«! Sie würde Herrn Ernst zum Vorstandsmitglied ihres »Vereins zur Rettung des Genitivs« machen.
»Aber wir unterhielten uns auch über viele andere Dinge, über Gott und die Welt, wie man so schön sagt. Und jeden zweiten Nachmittag gab es einen anderen ihrer so überaus köstlichen Kuchen. Ich habe mich nie mehr so wohlgefühlt.« Er sagte das ohne Übertreibung, schlicht und glaubwürdig.
»Aber warum …?« Hanna wagte die Frage nicht auszusprechen.
Herr Ernst kniff ganz leicht die Lippen zusammen und schaute über den Werkshof, als lägen dort die leeren verflossenen Jahre.
»Meine Frau war damals schon krank und sehr eifersüchtig.« Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »Vor zwei Jahren ist meine Frau gestorben.« Dann wandte er sich mit einem höflichen Lächeln an Hanna. »Aber Sie sind ja nicht gekommen, um sich den Erinnerungen eines alten Mannes auszusetzen, verzeihen Sie. Ihre Tante schreibt, Sie hätten eine Frage.«
Hanna war hingerissen von Herrn Ernst. »Doch, gerade um die Erinnerungen eines gar nicht alten Mannes geht es mir. Erinnern Sie sich an Elfi Rothammer?«
»Aber natürlich. Eine ausnehmend grässliche Person. Warum fragen Sie nach ihr?«
»Ich habe sie am Montag früh ermordet in ihrem Haus aufgefunden.«
»Wie schrecklich, Sie Ärmste! War das nicht furchtbar für Sie?«
Kein Wort des Mitleids für Elfi.
»Ja, es war ziemlich scheußlich. Könnten Sie mir erzählen, wie Sie sie kennengelernt haben?«
»Das war der Auftrag unmittelbar bevor wir zu Ihrer Frau Tante kamen. Wir sollten die Dachsparren der Villa Rothammer reparieren. Doch sie hat uns in einer Weise behandelt, die unerträglich war. Ständig kontrollierte und kritisierte sie uns oder ließ uns gar nicht erst ins Haus. Zweimal standen wir morgens vor ihrer Tür und riefen und klopften vergebens. Zwei Stunden später rief sie dann in
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