Das Haus am Nonnengraben
bewegte. Aber heute war das anders. Sie fühlte sich beobachtet, direkt und persönlich. Nach jedem zweiten Satz schaute sie auf und spähte über den Fluss, um zu erkennen, wer sie da ansah. Aber sie konnte nichts entdecken. Das irritierte sie so, dass sie schließlich Laptop und Unterlagen nahm und sich an ihren Schreibtisch im Innern des Hauses zurückzog. Doch ihre Konzentration war dahin. Gegen vier Uhr machte sie sich auf den Weg zu Herrn Ernst.
18
Benno löste das Polizeisiegel an der Tür des Hauses am Nonnengraben und schob sie auf. Drinnen öffnete er sämtliche Fenster, an denen er vorbeikam, vor allem die zum Garten, und klemmte ein paar Türen fest, um einen Durchzug zu erzeugen. Es roch zwar nicht mehr ganz so schlimm wie am Montag, aber so richtig lauschig war es noch immer nicht. Mit dem Strom frischer Luft wurde ihm etwas wohler, und er begab sich systematisch auf die Suche. Wo konnte Elfi Rothammer die Bankunterlagen versteckt haben?
Sie hatte sie gar nicht versteckt, es war nur niemand auf die Idee gekommen, sie mitzunehmen. Sie standen im Wohnzimmerregal neben den Büchern, fünf schwarze Aktenordner. Als Benno sie herauszog, fiel ihm daneben ein kleines, in rotes Plastik gebundenes Büchlein auf. Da es handschriftliche Einträge enthielt, trug Benno es mit den Ordnern zusammen in den Garten, um es sich in Ruhe anzusehen.
Er versuchte sich blätternd einen ersten Überblick über die Papiere in den Ordnern zu verschaffen. Aber es gab da Auszüge einer Vielzahl von Konten und Depots, zwischen denen er sich binnen Kurzem heillos verirrte. Das musste ein Spezialist begutachten. Er würde die Ordner bereitstellen, damit die Polizei sie abholen konnte. Die Kontoauszüge von Frau Rothammers Girokonto immerhin bestätigten Franz van Vindens Aussagen: Sie hatte immer wieder beachtliche Summen, die kurz vorher von verschiedenen Konten auf ihrem Girokonto eingegangen waren, an diverse Flüchtlingsorganisationen überwiesen. Benno wunderte sich, wie viele es gab, wie viel Bedarf da offensichtlich war.
Dann nahm er sich das rote Plastikbüchlein vor. Es war Elfis Kinderpoesiealbum. »Zu Deinem Geburtstag alles Gute von Deiner Dich liebenden Schwester Marie. 20.11.1948«, stand auf der ersten Seite. Dann folgten die üblichen poesiealbumtauglichen, rührenden, moralintriefenden Sprüchlein jeweils auf der rechten Seite und auf der linken gemalte Blümchen und Häschen, manchmal ein eingeklebtes Heiligenbild.
Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her, dass Du es noch einmal wieder zwingst und von Sonnenschein und Freude singst.
Denke immer an Deine Freundin Erika
Wer ist der Glücklichste auf Erden? Der, der nie wünscht, noch glücklicher zu werden.
Deine Lehrerin Schwester Gundrada
Die Schule des Lebens kennt keine Ferien.
Zur lieben Erinnerung an Deine Mitschülerin Hella
Die ungelenken, bemühten Kinderschriften erinnerten Benno an Bilder von kleinen Mädchen mit langen Zöpfen, großen Schleifen im Haar oder auf dem Scheitel gedrehten Haarrollen, wie er sie im Fotoalbum seiner Mutter gesehen hatte. Kleine Mädchen, die sich mit der Zungenspitze an der Oberlippe bemühten, ihre Buchstaben auf dem vorsichtig mit dem Lineal gezogenen Bleistiftstrich balancieren zu lassen, bevor sie diesen wieder wegradierten. Kleine Mädchen, die an Nikolaus und Weihnachten mit verschwitzten Händen Gedichte aufsagten und auf Kindergeburtstagen Blinde Kuh spielten. Kleine Mädchen, für die der Ausflug nach der ersten heiligen Kommunion ein aufregendes Abenteuer war …
Benno blätterte weiter. Die Sprüchlein füllten nicht das ganze Buch. Nach ein paar leeren Seiten begann eine Handschrift, die etwas älter wirkte:
»Heute ist Marie gestorben, meine große Schwester, sie war die letzte Verbindung zur Heimat. Sie ist nach den Soldaten nie wieder ganz gesund geworden. Ich weine und weine. Ich denke an das Bächlein hinter unserem Haus daheim, das Bächlein ist meine lebhafteste Erinnerung, es war ganz flach, darum durfte ich darin spielen. Und im Sommer ganz warm. Voll heller und dunkler Flecken. An einer Stelle war so eine Mulde, da habe ich meine Puppe gebadet, so wie mich Mama immer gebadet hat. Aber bei Adda gingen die Arme und Beine ab und sind davongeschwommen. Ich habe geschrien, dann hat Marie sie mit dem Kescher unten am Wehr herausgefischt, und Papa hat sie wieder drangemacht, er war gerade auf Heimaturlaub da. Es war das letzte Mal, dass ich ihn
Weitere Kostenlose Bücher