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Das Haus am Nonnengraben

Titel: Das Haus am Nonnengraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Degen
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gesehen habe. Die Arme und Beine von Adda waren danach steif, man konnte sie nicht mehr richtig bewegen, aber sie war doch wieder heile. Ich habe sie dann auf der Flucht verloren. Wir mussten aus unserem Haus raus, innerhalb einer Stunde, und durften nur ganz wenig mitnehmen. Ich war fünf Jahre alt.
    Wir kamen in ein Lager, da war es schrecklich. So viele Menschen, und als Klo gab es nur einen offenen Graben. Und jede Nacht kamen die Soldaten und haben sich Frauen geholt, die Frauen haben geschrien und geschrien. Am Anfang habe ich mir immer die Ohren zugehalten, später habe ich geschlafen und nichts mehr gehört. Aber wie sie Marie geholt haben, das habe ich doch gehört, zwölf war sie damals.
    Wir hatten immerzu Hunger. Dann wurde es Frühjahr und etwas besser, wir konnten Löwenzahn essen und Giersch, Gänseblümchen und Brennnesseln. Mama hat alle Kräuter gekannt, das war gut. Einmal kamen wir an einer Scheune vorbei, da standen dahinter ganz viele Brennnesseln, aber der Bauer hat sie uns nicht pflücken lassen, Marie und mich. Er hat einen Knüppel genommen, so einen dicken Ast, der da herumlag, und hat uns davongejagt. Er hat uns nicht einmal die Brennnesseln gegönnt, nicht einmal die.
    Dann waren wir in Bamberg, in dem großen Kaufhaus, wo die Flüchtlinge untergebracht waren. Da ist Mama gestorben. An Typhus. Und jetzt Marie. Die Schwestern im Heim versuchen mich zu trösten, sie sind lieb, aber streng.«
    Der Rest der Seite unter diesem Text war gefüllt mit der ungelenken Zeichnung eines Grabes mit einem Kreuz.
    Benno blickte auf, sah sich in dem geschlossenen Garten um. Er fuhr mit dem Finger betroffen das Kreuz nach. So viel Leid … Autolärm drang gedämpft über die hohen Mauern und durch die Kronen der Bäume. Eine Fliege landete immer wieder auf seiner Stirn, sooft er sie auch wegscheuchte. Kleine Mädchen, für die der Ausflug nach der ersten heiligen Kommunion ein aufregendes Abenteuer war …
    Benno wollte Elfis Album gerade schließen, als ein Zettel herausfiel. Er hob ihn auf, um ihn zurückzulegen, und entdeckte, dass Elfi nach der Grabes-Zeichnung wiederum einige Seiten leer gelassen hatte. Dann stand unter dem Datum vom 1.7.1959: »Ich habe ihn kennengelernt, ich habe ihn kennengelernt! Seit einem Jahr schon himmle ich ihn heimlich an, aber er war immer so weit weg. Von meinem ersten Gehalt hab ich mich im Tennisclub angemeldet. Und ich war ›zufällig‹ immer in der Nähe, wenn er gespielt hat. Und jetzt! O Glück!«
    15.8.1960: »Heute ist mein Hochzeitstag. Ich heirate den Mann meiner Träume. Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt!«
    Auf dem Zettel, der aus dem Buch gefallen war, las Benno: »Dies ist die Geschichte von Majid, der aus Afghanistan geflohen ist.« Elfi hatte dies über eine Kopie aus einem Buch geschrieben, aus dem offensichtlich auch eine Reihe weiterer solcher Kopien stammten, die sie in ihr Album eingeklebt hatte. Alle beschrieben in der Art von Augenzeugenberichten die Geschichten von Kindern auf der Flucht aus Ländern quer über den Erdball. Dann hatte sie mit der Hand weitergeschrieben: »Warum nur berührt mich ihr Schicksal so? Es sind fremde Kinder, mit denen ich nichts zu schaffen habe; ich hatte noch nie mit Kindern zu schaffen. Aber ich kann nicht aufhören, über sie nachzudenken. Ich habe dieses Buch gelesen, und jetzt kann ich nicht mehr aufhören, wie wenn da überall ein Stückchen von mir auferstanden wäre, so traurig. Wie fühlst du dich, wenn sie immer wieder Negerin zu dir sagen, und du bist doch so schön und so stolz, aus Eritrea zu sein? Sie denken, sie ist dumm, weil sie schwarz ist und nicht so reden kann wie sie, dabei hat sie viel mehr Erfahrung als die Hiesigen. Sie ist wochenlang auf der Flucht gewesen, immer nachts. Während die hier gemütlich in ihren Betten schliefen, musste sie mit ihrer Mutter und ihren kleinen Geschwistern auf Kamelen durch die Wüste, und überall war der Feind, und die Kinder durften keinen Mucks machen, und der Kleinste war erst zwei. Wie haben die das nur gemacht, die Kinder still zu halten tagsüber im Gebüsch und nachts auf den Kamelen? Was hab ich damals geweint, wie ich Adda verloren hab.
    Es sind die kleinen Dinge, nach denen man sich sehnt. Wie Emil nach seinem Hund, der kleine Emil. Der nur einen Wunsch hat, wieder in Sarajewo mit seinem Hund im Park spazieren gehen zu dürfen. Sein ganzes Herz liegt in diesem Traum, die Sehnsucht nach seinen Eltern und die Angst vor der Fremde, hier, wo er

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