Das Haus Am Potomac
könnten.«
Die Frau lächelte und entblößte dabei große,
gleichmäßige Zähne.
»Oh, natürlich.« Sie senkte die Stimme. »Ich gebe den
beiden immer reichlich. Sie können es sich nur leisten,
einmal in der Woche auswärts essen zu gehen, deswegen
will ich, daß sie richtig satt werden.«
Der Wein war ein billiger New-York-State-Tischwein,
schmeckte aber gut. Einige Minuten später brachte die
Kellnerin aus der Küche einen Teller mit dampfendem
Essen und einen Korb mit selbstgebackenen weichen
Brötchen.
Das Essen war köstlich. Das Fleisch war mit Weinessig
und Kräutern mariniert; die Soße war kräftig und
aromatisch, der Kohl pikant; die Butter schmolz in den
noch warmen Brötchen.
Mein Gott, wenn ich jeden Abend so reichlich äße, wäre
ich bald rund wie eine Tonne, dachte Pat. Aber sie spürte,
wie sich ihre Stimmung besserte.
Als sie fertig war, räumte die Kellnerin ihren Teller ab
und kam mit einer Kanne Kaffee zu ihr. »Ich habe Sie die
ganze Zeit angeschaut«, sagte die Frau. »Kann es sein, daß
ich Sie kenne? Aus dem Fernsehen?«
Pat nickte. Damit ist es vorbei mit dem unauffälligen
Herumschnüffeln, dachte sie.
»Natürlich«, fuhr die Kellnerin fort. »Sie sind Patricia
Traymore. Ich habe Sie im Fernsehen gesehen, als ich
meine Cousine in Boston besucht habe. Ich weiß, warum
Sie hier sind! Sie wollen eine Sendung über Abby Foster
machen – ich meine, über Senatorin Jennings.«
»Kannten Sie sie?« fragte Pat schnell.
»Ob ich sie kannte? Das kann man wohl sagen. Warum
trinke ich nicht einfach einen Kaffee mit Ihnen?« Es war
eine rhetorische Frage. Sie nahm sich eine leere Tasse
vom Nachbartisch und ließ sich Pat gegenüber schwer auf
den Stuhl sinken. »Das Kochen besorgt hier mein Mann;
er kann das Lokal schließen. Es war heute abend ziemlich
ruhig, aber mir tun trotzdem die Füße weh. Das viele
Stehen …«
Pat gab ihr durch Laute ihr Mitgefühl zu verstehen.
»Abigail Jennings, hm. Ab-by-gail Jennings«, meinte die
Frau sinnend. »Wollen Sie Leute aus Apple Junction in die
Sendung aufnehmen?«
»Das weiß ich noch nicht«, sagte Pat wahrheitsgemäß.
»Kannten Sie die Senatorin gut?«
»Nicht gut, genau genommen. Wir waren in der Schule
in derselben Klasse. Aber Abby war immer so still; man
konnte nie ahnen, was sie gerade dachte. Mädchen
erzählen einander normalerweise alles, haben eine beste
Freundin und laufen in Cliquen herum. Nicht so Abby. Ich
kann mich nicht entsinnen, daß sie auch nur eine enge
Freundin hatte.«
»Was dachten die anderen Mädchen über sie?« fragte
Pat.
»Na, Sie wissen ja, wie das ist. Wenn jemand so hübsch
ist, wie Abby es war, sind die anderen irgendwie
eifersüchtig. Dann bekamen alle das Gefühl, sie hielte sich
für etwas Besseres als wir, und das machte sie auch nicht
gerade beliebt.«
Pat sah sie einen Augenblick lang aufmerksam an.
»Hatten Sie auch dieses Gefühl bei ihr, Mrs. …?«
»Stubbins. Ethel Stubbins. Auf eine gewisse Weise ja,
aber ich konnte sie irgendwie verstehen. Abby wollte
einfach erwachsen werden und von hier fort. Der
Diskussionsclub war außerhalb des pflichtmäßigen
Stundenplans das einzige, woran sie teilnahm. Sie zog sich
nicht einmal so an wie wir anderen. Als wir in langen
weiten Pullovern und mit flachen Schuhen herumliefen,
kam sie mit gestärkter Bluse und hohen Absätzen zur
Schule. Ihre Mutter war Köchin im Hause der Saunders’.
Ich glaube, das hat Abby sehr gestört.«
»Ich habe gehört, ihre Mutter war da Haushälterin«,
sagte Pat.
»Köchin«, wiederholte Ethel mit Nachdruck. »Sie und
Abby hatten eine kleine Wohnung hinter der Küche.
Meine Mutter ging jede Woche zu den Saunders, um da zu
putzen, daher weiß ich es.«
Das war ein kleiner Unterschied: zu behaupten, daß die
Mutter Haushälterin war statt Köchin. Pat zuckte im
Geiste die Achseln. War es nicht völlig unerheblich, ob
die Senatorin die Tätigkeit ihrer Mutter um eine Spur
aufgewertet hatte? Pat überlegte. Wenn man sich Notizen
machte oder einen Recorder benutzte, hatte das manchmal
sofort zur Folge, daß der Interviewte erstarrte. Sie
beschloß, das Risiko einzugehen.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich das Gespräch
aufnehme?« fragte sie.
»Ganz und gar nicht. Soll ich lauter reden?«
»Nein, es ist gut so.« Pat zog den Recorder heraus und
stellte ihn zwischen ihnen auf den Tisch. »Erzählen Sie
einfach von Abigail, wie Sie sie in Erinnerung haben. Sie
sagen, es hat sie
Weitere Kostenlose Bücher