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Das Haus Am Potomac

Das Haus Am Potomac

Titel: Das Haus Am Potomac Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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verschwunden.

15
    Glory hatte sich verändert. Sie hatte angefangen, sich
morgens die Haare einzudrehen. Sie hatte neue,
farbenfrohe Sachen zum Anziehen. Die Blusen hatten
hohe gerüschte Ausschnitte statt heruntergeknöpfte
Kragen. Und vor kurzem hatte sie sich Ohrringe gekauft,
zwei Paar. Er hatte sie nie vorher Ohrringe tragen sehen.
    Sie sagte jetzt jeden Tag zu ihm, er brauche ihr kein
Sandwich zum Lunch zu machen, sie würde auswärts
essen gehen.
    »Ganz alleine?« hatte er gefragt.
»Nein, Vater.«
»Mit Opal?«
»Ich gehe einfach essen« – und ihre Stimme hatte dabei
ungewohnt unwirsch geklungen.
    Sie wollte überhaupt nichts mehr über seine Arbeit
hören. Er hatte mehrfach versucht, ihr zu erzählen, wie die
alte Mrs. Gillespie trotz des Sauerstoffgeräts vor
Schmerzen keuchte und hustete. Glory hatte ihm immer
mit so viel Mitgefühl zugehört, wenn er ihr von seinen
Patienten erzählte, und ihm zugestimmt, wenn er gesagte
hatte, daß es für die Schwerkranken eine Erlösung wäre,
wenn der Todesengel sie holen käme. Ihre Zustimmung
hatte ihm immer geholfen, seine Mission auszuführen.
    Er war gedanklich so mit Glory beschäftigt und
abgelenkt gewesen, daß er unvorsichtig gewesen war, als
er Mrs. Gillespie erlöst hatte. Er hatte gedacht, sie
schliefe, aber als er den Stecker des Atemgeräts
herausgezogen hatte und für sie beide betete, hatte sie die
Augen geöffnet. Sie hatte verstanden, was er tat. Ihr Kinn
hatte gezittert, und sie hatte geflüstert: »Bitte, bitte, oh …
gütige Jungfrau, hilf mir …« Er hatte gesehen, wie sich
der Ausdruck in ihren Augen veränderte, wie die Angst
erst einem glasigen, dann leeren Blick wich.
    Und Mrs. Harnick hatte gesehen, wie er aus
Mrs. Gillespies Zimmer kam.
Schwester Sheehan hatte Mrs. Gillespie gefunden. Sie
hatte sich nicht damit abfinden wollen, daß der Tod der
alten Frau Gottes Wille war. Statt dessen hatte sie darauf
bestanden, daß das Atemgerät daraufhin überprüft wurde,
ob es richtig funktionierte. Später hatte er sie mit
Mrs. Harnick zusammen gesehen. Mrs. Harnick war sehr
aufgeregt gewesen und hatte auf Mrs. Gillespies Zimmer
gezeigt.
Alle im Heim mochten ihn, nur Schwester Sheehan
nicht. Sie wies ihn immer zurecht, sagte, er maße sich
zuviel an. »Wir haben Hausgeistliche«, sagte sie jedesmal.
»Es gehört nicht zu Ihren Aufgaben, den Kranken
seelischen Beistand zu leisten.«
Wenn er daran gedacht hätte, daß Schwester Sheehan an
diesem Tag Dienst hatte, wäre er niemals in
Mrs. Gillespies Nähe gegangen.
Er konnte nicht klar denken, weil die Sorgen wegen der
Dokumentarsendung über Senatorin Jennings so an ihm
zehrten. Er hatte Patricia Traymore viermal gewarnt, daß
sie nicht weiter an dieser Sendung arbeiten sollte.
Eine fünfte Warnung würde es nicht geben.
    Pat konnte einfach nicht einschlafen. Nachdem sie sich
eine Stunde lang ruhelos hin und her gewälzt hatte, gab sie
auf und langte nach einem Buch. Aber ihr Kopf wollte
sich nicht mit der Churchill-Biographie befassen, auf
deren Lektüre sie sich so gefreut hatte.
    Um ein Uhr machte sie die Augen zu. Um drei ging sie
nach unten, um sich eine Tasse Milch warm zu machen.
Sie hatte das Licht unten im Foyer angelassen, doch auf
der Treppe war es dunkel, und sie mußte sich da, wo die
Treppe eine Biegung machte, am Geländer festhalten.
    Sie hatte immer gerne auf dieser Stufe gesessen, wo man
sie unten vom Foyer aus nicht sehen konnte, und
eintreffende Gäste beobachtet. Ich hatte ein geblümtes,
blaues Nachthemd. Das hatte ich auch an diesem Abend
an … Ich hatte hier gesessen, und dann bekam ich Angst
und lief wieder nach oben ins Bett …
Und dann … »Ich weiß nicht«, sagte sie laut, »ich weiß
es nicht.«
     
Auch die warme Milch brachte ihr keinen Schlaf.
    Um vier Uhr ging sie nach unten und holte sich das fast
fertige Storyboard.
Die Sendung sollte damit beginnen, daß die Senatorin
und Pat im Studio vor einer Großaufnahme von Abigail
und Willard Jennings bei ihrem Hochzeitsempfang saßen.
Mrs. Jennings Senior war auf dem Film seitlich
weggeschnitten worden. Während im Hintergrund der
Streifen über den Empfang ablief, sollte die Senatorin
erzählen, wie sie Willard kennengelernt hatte, als sie in
Radcliffe studierte.
Auf diese Weise bekomme ich wenigstens etwas über
den Nordosten herein, dachte Pat.
Dann wollten sie eine Filmmontage über Willards
Kongreßwahlkampagnen zeigen, während Pat sich mit

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