Das Haus Am Potomac
Büro unschuldig zu sein.
23
Als er im Pflegeheim den Korridor entlangging, spürte
Arthur die Spannung und war gleich auf der Hut. An und
für sich schien alles ziemlich friedlich. Auf mit Filz und
künstlichem Schnee bedeckten Tischen standen
Weihnachtsbäume und Chanukka-Kerzen. An die Türen
zu den Räumen der Patienten waren überall Grußkarten
geklebt. Im Aufenthaltsraum erklang in Stereo
Weihnachtsmusik. Aber irgend etwas stimmte nicht.
»Guten Morgen, Mrs. Harnick. Wie fühlen Sie sich?«
Sie bewegte sich langsam den Flur entlang, den
vogelartigen Körper vorgebeugt und auf das Laufgestell
auf Rädern gestützt, die Haare zottelig um ihr aschfahles
Gesicht. Sie blickte zu ihm auf, ohne den Kopf zu heben.
Nur ihre tiefliegenden, wässerigen, furchtsamen Augen
bewegten sich.
»Bleiben Sie mir vom Leibe, Arthur«, sagte sie mit
zitteriger Stimme. »Ich habe ihnen gesagt, daß Sie aus
Anitas Zimmer gekommen sind, und ich weiß, daß es
stimmt.«
Er faßte Mrs. Harnick am Arm, aber sie zuckte zurück.
»Natürlich war ich in Mrs. Gillespies Zimmer«, sagte er.
»Sie und ich – wir waren Freunde.«
»Sie war nicht mit Ihnen befreundet. Sie hatte Angst vor
Ihnen.«
Er versuchte, seine Wut nicht zu erkennen zu geben.
»Aber, Mrs. Harnick, …«
»Ich weiß, was ich sage. Anita wollte am Leben bleiben.
Ihre Tochter Anna Maria wollte sie besuchen kommen.
Sie war seit zwei Jahren nicht mehr hier im Osten
gewesen. Anita hat mir erklärt, es mache ihr nichts aus zu
sterben, wenn sie nur Anna Maria noch einmal sähe. Sie
hat nicht einfach so aufgehört zu atmen. Das habe ich
ihnen gesagt.«
Die Oberschwester, Elizabeth Sheehan, saß auf halber
Höhe des Korridors an einem Schreibtisch. Er haßte sie.
Sie hatte ein strenges Gesicht und blaugraue Augen, die
sich, wenn sie wütend war, stahlgrau verfärben konnten.
»Arthur, bevor Sie Ihre Runden machen, kommen Sie
bitte zu mir ins Büro.«
Er folgte ihr in das Büro des Pflegeheims, in dem
normalerweise die Familienangehörigen der alten Leute
empfangen wurden. Aber heute waren da keine
Angehörigen, sondern nur ein milchgesichtiger junger
Mann in einem Regenmantel und mit Schuhen, die es
nötig hatten, geputzt zu werden. Er hatte ein freundliches
Lächeln und strahlte Herzlichkeit aus, aber Arthur ließ
sich nichts vormachen.
»Ich bin Detective Barrott«, stellte er sich vor.
Der Superintendent des Hauses, Dr. Cole, war auch da.
»Arthur, setzen Sie sich«, sagte er bemüht freundlich.
»Danke, Schwester Sheehan, Sie brauchen nicht zu
warten.«
Arthur suchte sich einen schlichten Stuhl aus und dachte
auch daran, die Hände im Schoß zu falten und etwas
verwundert dreinzuschauen, so als hätte er keine Ahnung,
worum es ging. Er hatte diesen Ausdruck vor dem Spiegel
geübt.
»Arthur, am letzten Donnerstag ist Mrs. Gillespie
gestorben«, sagte Mr. Barrott von der Kriminalpolizei.
Arthur nickte und nahm einen Ausdruck des Bedauerns
an. Er war auf einmal froh, daß er Mrs. Harnick auf dem
Flur begegnet war. »Ich weiß. Ich hatte so sehr gehofft,
daß sie noch ein Weilchen am Leben bliebe. Ihre Tochter
wollte sie besuchen kommen, sie hatte sie schon seit zwei
Jahren nicht mehr gesehen.«
»Das wußten Sie?« fragte Dr. Cole.
»Natürlich, Mrs. Gillespie hat es mir gesagt.«
»Ach so. Wir wußten nicht, daß sie über den Besuch
ihrer Tochter gesprochen hat.«
»Doktor, Sie wissen doch, wie lange es dauerte,
Mrs. Gillespie zu füttern. Manchmal mußte sie sich
zwischendurch ausruhen, und wir unterhielten uns.«
»Arthur, waren Sie froh, als Mrs. Gillespie starb?« fragte
Detective Barrott.
»Ich bin froh, daß sie starb, bevor sich ihre
Krebserkrankung verschlimmerte. Sie hätte schreckliche
Schmerzen zu ertragen gehabt. Stimmt’s Doktor?« Er
blickte Dr. Cole mit großen Augen an.
»Möglich, ja«, gab dieser unwillig zu. »Aber man weiß
natürlich nie …«
»Aber ich wünschte, Mrs. Gillespie hätte noch lange
genug gelebt, um ihre Anna Maria wiederzusehen. Sie und
ich haben gemeinsam dafür gebetet. Sie bat mich oft
darum, ihr einen besonderen Gefallen zu tun und ihr
Gebete aus dem Saint Anthony Missal vorzulesen. Diese
Gebete hatte sie am liebsten.«
Detective Barrott musterte ihn eingehend. »Arthur,
waren Sie am letzten Montag bei Mrs. Gillespie im
Zimmer?«
»Oh, ja, ich war bei ihr, kurz bevor Schwester Krause
ihre Runde machte. Aber Mrs. Gillespie hatte keine
Wünsche.«
»Mrs. Harnick hat gesagt,
Weitere Kostenlose Bücher