Das Haus an der Klippe
ich hinauswollte, ist, daß weder Sie noch Ihre Frau jemals von der Sache erfahren hätten, wenn alles nach Plan verlaufen wäre.«
»Kann sein«, sagte Dalziel, der sich mit dem ruhigen, forschenden Blick eines Hühnerhundes im Zimmer umsah, »wenn Sie uns von diesem Plan erzählt hätten … ah ja.«
Er stand auf, trat an einen prachtvollen Eichensekretär und öffnete eine Tür, hinter der eine Kollektion Flaschen und Gläser zum Vorschein kam, und fragte: »Malt oder Blended?«
»Ich richte mich ganz nach Ihnen«, sagte Sempernel. »Der Plan. Ja. Mr. Pascoe, Ihre Frau stand in ihrer Eigenschaft als Mitglied des Liberata Trust mit verschiedenen politischen Gefangenen in Briefkontakt, darunter einer Kolumbianerin namens Bruna Cubillas. Haben Sie von ihr gehört?«
»Flüchtig. Ich wußte, daß Ellie an solche Leute schreibt, und manchmal, nicht besonders oft, bekam sie Antwort. Aber wir haben nur selten darüber gesprochen.«
»Wirklich? Vielleicht, weil sie geahnt hat, es könnte da einen Konflikt mit Ihrer Arbeit als Polizist geben?«
»Natürlich nicht. Warum sollte es ein Verstoß gegen das Gesetz sein, Briefe zu schreiben?«
»Ich könnte Ihnen da aus dem Stegreif ein halbes Dutzend Möglichkeiten nennen«, sagte Sempernel. »Aber egal. Sitzen Sie bequem? Dann fange ich an.
Bruna Cubillas …«
Elf
Aus den Sibyllinischen Blättern
Bruna Cubillas …
born in a shack in a slum on the banks of a drain …
living was pain …
Ein Bruder, fünf Schwestern. Die anderen Mädchen sind alle bereits im Kindesalter gestorben. Ob Bruna jemals mit großen Augen zu einem Fremden aufgeblickt und wie in dem Gedicht von Wordsworth beharrt hat:
wir sind sieben?
Ich bezweifle es. Wahrscheinlich hat sie sich quicklebendig gefühlt, doch Kinder in solchen Verhältnissen und an solchen Orten wissen gewöhnlich verdammt gut über den Tod Bescheid.
look at her growing …
out on the streets where each day a new terror could strike …
What was it like?
Selbst wenn ich mehr über sie wüßte, könnte ich sie überhaupt verstehen? Sie hatte wahrscheinlich Freiheiten, von denen ich in meinem kleinen, engen walisischen Dorf, in meinem kleinen, engen walisischen Tal nicht einmal hätte träumen können – die Freiheit, schon in frühester Kindheit überall herumzustrolchen, die Freiheit, an glutheißen Sommertagen nackt vom Betonkai in das trübe, aber kühle Wasser zu springen, die Freiheit, von ihrer Barackensiedlung ins Zentrum von Cartagena zu gehen, der nächsten richtigen Stadt, die Freiheit, auf der Straße zu betteln, die Freiheit, Brot oder Obst von den Marktständen zu stehlen und ihren Verfolgern zu entwischen, indem sie sich durch Zäune und Spalten quetschte, durch die ihr die Erwachsenen nicht folgen konnten.
Aber meine Freiheiten – die Freiheit, saubere neue Kleider zu tragen, frische, nahrhafte Sachen zu essen, in kühlen Leinenlaken zu schlafen, an meinem Geburtstag und an Weihnachten gefeiert und verhätschelt zu werden, im Sommer mit meiner Familie in Urlaub zu fahren, neben meinen Freundinnen in einer Schulbank zu sitzen und mich darüber zu beklagen, lernen zu müssen – das waren Freiheiten, von denen sie nichts wußte und von denen sie wahrscheinlich nicht einmal träumte. Jedenfalls nicht, bis ihr Bruder ihr davon zu erzählen begann.
Fidel Cubillas …
Der in der Welt – seiner Welt zumindest, dieser Welt aus Mythen, Legenden, Heroismus und Horror, die von den Gipfeln der Anden bis in die Tiefen der Regenwälder reicht, der Welt des politischen Untergrunds von Südamerika – Chiquillo genannt wurde. Wegen seines jugendlichen Aussehens. Oder vielleicht aus demselben Grund, weshalb man die erste Atombombe »Little Boy« nannte.
Killed his first cop with a knife driven straight through the spleen …
He was thirteen …
So will es die Legende. Eine Razzia nach Untergrundkämpfern in den Slums, der Junge wird unsanft geweckt, indem man die Lumpen wegreißt, unter denen er liegt; ohne nachzudenken, wirft er das Messer, das er immer, ob im Wachen, ob im Schlafen, zur Hand hat, der Bulle am Boden, er schreit, er stirbt, der Junge wird aufs Polizeirevier geschleppt, geschlagen und vergewaltigt, im Gefängnis ergeht es ihm nicht besser, bis eine Gruppe von Freiheitskämpfern namens Farc ihn unter ihre Fittiche nimmt. Während Bruna, die nun, da ihr hitziger Bruder weg ist, niemanden hat, der sie beschützt, draußen irgendwie überlebt, heranwächst und ihn nicht vergißt. Und mit
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