Das Haus an der Klippe
Verlangen anderer Art. Bisher hatte sich in die unaufhörlichen Bedrohungen, denen sie seit dem ersten Schuß auf der Terrasse ausgesetzt waren, kein sexuelles Moment gedrängt. Aber wie sie an seinem glänzenden Blick und der Schwellung zwischen seinen Beinen erkannte, war es damit nun vorbei.
Verrückterweise packte sie in diesem Augenblick eine unheimliche Wut auf Kelly. Warum zum Teufel mußte sie so verdammt attraktiv sein? Das Verhalten dieser Männer zeigte deutlich, daß sie es eilig hatten, sie wollten ihre Beute einladen und diesem gottverlassenen Winkel so rasch wie möglich den Rücken kehren. Axness mußte auf sie wirken wie eine Falle kurz vor dem Zuschnappen. War Jorge wirklich so scharf darauf herauszubekommen, wo Chiquillo steckte, daß er sich noch lange hier aufhalten würde? Vermutlich nicht. Die Jagd nach Chiquillo hatte Zeit, sofern er überhaupt noch lebte. Aber Kelly zu verhören würde für Jorge das reine Vergnügen sein, und nicht nur ein Mittel zum Zweck. Kelly würde nichts preisgeben … und daß sie sich wehrte, würde ihm gefallen. Sie erinnerte sich, wie rücksichtslos er mit Daphne und Novello umgesprungen war. Wenn er mit Kelly fertig war, würde sie wahrscheinlich tot sein.
Und wenn er erst einmal eine von ihnen umgebracht hatte, dann waren die anderen doch nur noch gefährliche Zeuginnen.
»Du«, sagte Jorge zum kleinen Ajax. »Behalt sie im Auge. Wenn sie sich rühren, schieß.«
Und zum großen Ajax sagte er, auf Kelly deutend: »Bring sie her.«
Im Vertrauen darauf, daß seine Befehle ausgeführt wurden, ging er zur Tür.
Der große Ajax setzte sich in Bewegung.
Hastig stand Ellie auf. In ihrem Kopf wirbelten die Bilder durcheinander. Horatius beim Sprung auf die Brücke, Spartakus, der den Leiter der Gladiatorenschule angriff, Lytton Strachey, der vor Gericht erklärte, wenn ein gemeiner Hunne sich anschicke, seine Schwester zu vergewaltigen, würde er sich mit seinem Körper dazwischenwerfen.
Warum sollten immer die Männer die besten Rollen bekommen?
»Nein«, sagte sie.
Sie wußte nicht, was sie erwartete, außer Unterstützung natürlich. Horatius hatte seine beiden Gefährten, Spartakus hatte eine Armee aufständischer Sklaven hinter sich, selbst Strachey konnte wahrscheinlich ein rasch unterdrücktes Lachen ernten.
Sie aber bekam nur einen Verweis von der Oberlehrerin Feenie.
»Ellie, sei nicht albern. Setz dich hin!«
Gewiß, Daphne machte symbolisch Anstalten aufzustehen, aber als Feenies Hand ihre Schulter niederdrückte, leistete sie keinen Widerstand. Wendy hielt Kopf und Augen gesenkt wie ein grasendes Schaf, Mrs. Stonelady schien gar nicht zu bemerken, daß irgend etwas Außerordentliches vor sich ging. Nur Kelly stand auf, sah ihre Großmutter an, lächelte und sagte: »Ist schon gut, Ellie. Mir passiert nichts.«
»Nichts? Nein! Wir können das nicht zulassen!« rief Ellie.
Und als der große Ajax den Arm ausstreckte, um Kelly zu packen, griff Ellie zu und bohrte ihre Zähne in seinen Handballen. Aus den Abenteuerbüchern ihrer Kindheit hatte sie in Erinnerung, daß eine solche Attacke den Gegner auf so schmerzhafte Weise ablenkte, daß eine wendige Heldin Zeit zur Flucht fand.
Der große Ajax hatte anscheinend andere Bücher gelesen. Er riß sich los und schlug ihr mit solcher Wucht ins Gesicht, daß sie gegen das Fenster flog. Dann packte er Kellys Arm, und sie ließ sich widerstandslos durch die Tür ziehen.
Ellie richtete sich auf. Der Sturm draußen schien in ihrem Kopf zu toben. Die Blitze, die jetzt unaufhörlich niederfuhren, ließen das Fenster so hell aufleuchten, daß der über das Glas strömende Regen rot wie Blut aussah.
Als sie ein wenig klarer im Kopf wurde, sah sie, daß es tatsächlich Blut war, ihr Blut, und zwar auf der Innenseite des Fensters.
Sie griff sich an die Nase, die höllisch weh tat, und wandte sich, in der Erwartung, schuldbewußte Gesichter zu sehen, ihren hasenherzigen Gefährtinnen zu.
»Jetzt passen wir ja prima zusammen«, meinte Daphne, nicht frei von Genugtuung. »Vielleicht bekomme ich nun endlich ein bißchen Mitgefühl.«
Sechzehn
Ein Palomino-Pony
O nkel Paddy …
Popeye …
Das Stehaufmännchen …
Patrick Ducannon war es egal, wie ihn die Leute nannten, solange sie immer gehörigen Abstand von der Wahrheit hielten.
Er war ein Überlebenskünstler, das war gewiß ein Teil der Wahrheit, aber daß er es immer wieder schaffte, dem Tod von der Schippe zu springen, war wiederum nur ein Teil
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