Das Haus an der Klippe
Weihnachtsgänse, um das Geld dann einem guten Zweck zuzuführen, hätte ihr ermöglicht, den Kuchen zu essen und zu behalten.
»Jedenfalls«, fuhr Daphne fort, »wirkt sie nicht so, als wüßte sie, welchen Wochentag wir haben. Ruf sie an und erklär ihr, daß sie dich falsch verstanden hat.«
»Feenie ist nicht auf den Kopf gefallen«, gab Ellie zurück. »Außerdem kommen noch mehr Leute, und ich habe sie schon mal ausgeladen. Die Versammlung hätte eigentlich gestern stattfinden sollen, aber weil ich dachte, ich müßte auf den Schulausflug mitfahren, habe ich einen Rundruf gemacht und den Termin auf heute verlegt. Mein Gott, ich hab ganz vergessen, Peter zu erinnern, daß sie kommen.«
»Macht nichts«, meinte Daphne. »Kann es denn eine schönere Überraschung für einen Bobby geben, als nach einem harten Tag heimzukommen und eine Horde anarchistischer Gutmenschen vorzufinden? Dann laß uns mal sehen, ob wir eine Lücke in deinem überfüllten Terminkalender finden. Vielleicht könnten wir uns in der zweiten Wochenhälfte zum Mittagessen treffen? Patrick fährt morgen früh zu einer Gartenbautagung nach Holland. Diana besucht ihre Cousine in Dorset, und David ist mit ein paar Kumpels aus der sechsten Klasse in der Hütte. Ihr habt es gut mit eurer staatlichen Schule. Die kostet euch nichts, und die Kinder verbringen einen Großteil ihrer Zeit dort, während wir ein Vermögen dafür hinblättern und sie kaum dort sind!«
Ellie lächelte, statt an die Decke zu gehen. Kluge Rächer passen den rechten Augenblick für den Vergeltungsschlag ab. Ein nettes Essen in Rosemont, mit Leckereien von Marks and Sparks, die immer selbstgemacht aussehen, wäre die geeignete Abschußrampe.
»Das hört sich gut an«, sagte sie. »Jederzeit, nur nicht morgen. Da machen wir einen Ausflug nach Enscombe. In der Old Hall gibt es eine Art Streichelzoo. Ed Wield, der im Dorf wohnt, hat den Fehler begangen, Rosie davon zu erzählen, und sie hat ihm keine Ruhe gelassen, bis er versprochen hat, mit ihr hinzugehen.«
»Wield? Das ist doch dieser häßliche Sergeant, oder? Hast du nicht erwähnt, er wäre ein bißchen …?«
»Schwul?« sagte Ellie. »Das stimmt, aber nicht nur ein bißchen, sondern voll und ganz. Und auch wenn du in der Sonntagsschule etwas anderes gelernt hast, heißt das nicht, daß er kleinen Kindern auflauert.«
»Das hätte ich nie gedacht«, protestierte Daphne. »Auf mich hat er einen sehr netten Eindruck gemacht. Und ich weiß noch, daß Daddy immer sagte, ihm seien schwule Hilfspfarrer lieber, denn es sei leichter, auf den Kirchenchor aufzupassen, wenn der Hilfspfarrer da rumschleicht, als auf den Hilfspfarrer aufzupassen, wenn die Mothers’ Union Jagd auf ihn macht. Jetzt muß ich aber los und mir mein Mittagessen verdienen. Ein Restaurant im Gartencenter! Bei dem bloßen Gedanken wird einem schwindlig.«
»Grüß Patrick von mir«, sagte Ellie. »Und hüte dich vor den Blattläusen.«
Sie winkte ihrer Freundin nach und stellte mit selbstironischem Neid fest, daß Daphne sich seit ihrer letzten Begegnung wieder mal ein neues Auto zugelegt hatte – einen sportlichen Audi. Dann winkte sie noch Dennis Seymour zu und ging wieder ins Haus.
Bei der Erwähnung des Liberata-Treffens war ihr wieder eingefallen, daß sie sich ein wenig hatte vorbereiten wollen. In den letzten Wochen hatte sie nicht nur das völlig vernachlässigt, aber wenn Feenie Macallum Fragen stellte, mußte eine kluge Mitstreiterin Antworten parat haben. Also ging sie wieder nach oben und schaltete den Laptop an. Der Kaffee zeigte keine merklichen Auswirkungen, also klickte sie in ihren Dateien
Liberata
an und ging die Liste mit den Namen der Frauen durch, die ihr Feenie zur Korrespondenz zugeteilt hatte. Die meisten saßen im Gefängnis, alle steckten in Schwierigkeiten. Die wenigsten konnten antworten; an sie zu schreiben war also ein Akt des Glaubens. Aber wie Feenie betonte, selbst wenn die Briefe abgefangen werden, erfahren die Leute, daß wir diese Frauen kennen und über ihre Situation Bescheid wissen, und das kann lebensrettend sein.
Ellie wählte die erste auf ihrer Liste, Bruna Cubillas, die nicht nur die erste im Alphabet war, sondern ihr auch besonders am Herzen lag. Bruna hatte auf ihre Briefe immerhin so oft geantwortet, daß eine echte Beziehung entstanden war, und Ellie hatte überrascht festgestellt, wieviel Wärme aus ihren Briefen sprach. Feenie hatte dazu gesagt: »Wenn dir jemand die Hand reicht, während dir das
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