Das Haus an der Klippe
ist nicht die Behandlung, die wir getreu den Geboten unseres Glaubens dem müden Wanderer angedeihen lassen, der als Gast in unsere Mitte tritt. Bringt Speisen und trockene Kleider herbei, und wenn er sich erfrischt hat, werde ich mit ihm sprechen, um zu erfahren, wer er ist und in welcher Absicht er hierherkommt.«
Der Dicke murmelte Dankesworte, aber der Fürst brachte ihn mit einer heftigen Fußbewegung zum Schweigen und fuhr fort: »Aber legt den Rost schon mal auf, nur für den Fall, daß er mich nicht zufriedenstellt.«
Der Fürst setzte seinen Fuß zurück, und Achates bedeutete mit seinem Schwert dem Griechen, sich zu erheben. Da traten zwei junge Frauen vor, eine brachte Kleider, die andere einen Bronzeteller, auf dem sich dampfende Speisen häuften.
»Das riecht großartig. Herzlichsten Dank, Herr. Allerdings bräuchte ich eine freie Hand zum Essen.«
»Nur eine?« fragte Achates und hob seine Waffe. »Welche würdest du denn gern behalten?«
»Halt, nicht so hastig«, entgegnete der Grieche und wich zurück. »Immer mit der Ruhe.«
Er spannte seine breiten Schultern an, holte tief Luft, beugte sich nach vorne, und mit einem Ruck riß er den Stoffstreifen entzwei, mit dem seine Hände gefesselt waren.
In diesem Augenblick läutete die Türklingel, und Ellie, mit einem Schlag aus ihrer gefährlichen Phantasiewelt in ihr nicht minder gefährliches Leben zurückgeholt, stieß die Kaffeetasse um.
»Scheiße!« rief sie, sprang auf und schüttelte den Kaffee aus der Tastatur.
Verblüfft stellte sie fest, daß ihre Geschichte nach wie vor auf dem Bildschirm zu sehen war, aber sicherheitshalber speicherte sie ab und schaltete das Gerät aus.
Wieder klingelte es.
Obwohl sie wußte, daß Detective Constable Dennis Seymour vor ihrem Haus in seinem Wagen saß, spähte sie wie eine Hausfrau in einer Vorabendserie durch die Gardine, um zu sehen, wer Einlaß begehrte.
Es war ihre Freundin Daphne Aldermann, die vor Neugier fast platzte, nachdem der Polizist sie angesprochen und einem Verhör unterzogen hatte. Zunächst schenkte Ellie sich und ihrem Gast zur Beruhigung einen Scotch ein – wenn man erst einmal bei Dr. Dalziel in Behandlung war, hielt man sich bis zum bitteren Ende an seine Vorschriften –, dann erzählte sie mit komisch-heroischer Begeisterung ihre Geschichte und gab sich schließlich dem stilleren Vergnügen der Selbstanalyse hin. Da sie seit jeher Gewalt in jeder Form abgelehnt hatte, sah sie sich genötigt, Daphne, die ein wenig Gewalt für eine gute Sache durchaus befürwortete, in allen Einzelheiten zu erklären, warum sie sich zu einem physischen Angriff hatte verleiten lassen.
»Es war, weil sie Rosie benutzt haben – das war der Auslöser«, sagte sie. »Es waren meine eigenen Schuldgefühle, die mit mir durchgegangen sind, meine ich.«
»Deine
Schuldgefühle?«
Daphne war nicht Dalziel und noch weniger war sie ein hirnloses Kleinkind wie Shirley Novello.
Ellie legte ungefähr dieselbe Beichte ab, die sie bereits dem Dicken vorgetragen hatte, und erklärte abschließend: »Du siehst also, was für eine konfuse Gans ich geworden bin. Ich komme mir vor wie dieser Inder – aus
Hamlet,
oder? –, der eine Perle wegwarf, mehr wert als sein ganzes Volk. Nur daß ich sie zurückbekommen habe.«
»Othello,
glaube ich. Und der springende Punkt war, daß er nicht wußte, wie viel sie wert war. Außerdem hast du Rosie nicht weggeworfen«, erklärte Daphne vernünftig. »Und eine konfuse Gans warst du schon immer, da bist du dir treu geblieben.«
In ihrer Beziehung zu Ellie Pascoe empfand es Daphne als ihre Berufung, die Rolle der Vernünftigen zu spielen. Was Erziehung, Weltanschauung und gesellschaftliche Stellung betraf, hätten die beiden nicht verschiedener sein können. Aber der Zufall, dieser verrückte Wissenschaftler, hatte vor ein paar Jahren beschlossen, ihre gegensätzlich gepolten Teilchen auf Kollisionskurs zu bringen, und daß dabei viel Energie frei geworden war, beruhte mehr auf Fusion als auf Kernspaltung.
Ellie sah aus, als wollte sie zum Großangriff übergehen, aber dann begnügte sie sich doch mit einem Scharmützel.
»Bist du sicher, daß es
Othello
ist?« fragte sie spitz. »Ich dachte immer, in euren Privatschulen fand ein engerer Kontakt mit Literatur nur dann statt, wenn ihr bei euren Haltungsübungen irgendwelche gesammelten Werke auf dem Kopf zu balancieren hattet.«
»Da bist du nicht ganz im Bilde. Wir mußten jeden Morgen einen Klassiker
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