Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
immer noch an dem Flensburger Anwesen hängst. Es ist inzwischen schon seit vielen Jahren in kleine Parzellen eingeteilt, und ich weiß nicht, wem sie gehören. Du weißt ja, warum wir das Anwesen nicht halten konnten. Vater und ich fühlen uns sehr wohl in dem neuen Haus an der Förde. Er ist so froh, dass ich Spaß an dem Geschäft habe. Und ich war ja gerade erst geboren, als Mutter und Vater den Hügel verlassen mussten. Ist es nicht ein Wunder, dass wir es wieder zur reichsten Familie der Stadt gebracht haben? Nein, es ist kein Wunder. Wir haben es allein dir und deinem sagenhaften Mut zu verdanken. Und deinem Scharfsinn. Wie konntest du ahnen, dass die Regierung tatsächlich mit dem Gedanken spielt, den Zoll für Rum von dem Wertzoll in einen Gewichtzoll umzuwandeln? Noch haben sie die Bestimmungen zwar nicht geändert, aber ich weiß aus sicherer Quelle, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann wir nach Gewicht zahlen müssen. Und dann ist die Konkurrenz doppelt benachteiligt. Sie führen eh schon weniger Rohstoff als wir ein und würden im Ernstfall auch noch mehr für weniger Qualität zahlen müssen. Es bleibt nur zu hoffen, dass sie nicht auf denselben Gedanken kommen wie wir und in Zukunft auch den puren statt den fertigen, trinkbaren Rum verschiffen. Schade ist nur, dass ich wohl niemals die Gelegenheit haben werde, mit dir über solche Dinge am warmen Ofen zu plaudern. Eine Reise in die Karibik ist utopisch. Ich werde vor Ort gebraucht. Und ich kann mir auch kaum vorstellen, dass du dich auf die lange Reise begibst. Vater sagt immer: Wir werden den Engel, der unsere Existenz gerettet hat, wohl nie persönlich kennenlernen. Und dann fügt er bedauernd hinzu: »Sie wird sich nie davon überzeugen können, was für ein Mann der Tat aus dem kleinen Jannis geworden ist.« Ich bin ja nur froh, dass Vater meinem Zukünftigen und mir das Geschäft nach Mutters Tod überlassen und sich zur Ruhe gesetzt hat. Er hätte sonst bis zum Umfallen gearbeitet. Er lässt dich jedenfalls grüßen. Ich heiße übrigens bald nicht mehr Andresen, sondern – lach nicht – Brodersen. So wie meine Großmutter nach Großvater Heinrichs Tod einen Brodersen geheiratet hat, werde ich auch demnächst einen jungen Mann aus der Sippe ehelichen. Ich habe neulich im Nachlass von Großmutter Lene deinen Brief gefunden, in dem du ihr schreibst, dass du noch lebst. Ich glaube, das war für sie damals ein großer Trost, nachdem Großvater tot war. Danke, dass du das Geschäft so gut im Griff hast. Auch wir in der Heimat profitieren davon und können uns vor Abnehmern kaum retten. Denn sei gewiss: unser Rum ist immer noch mit Abstand der beste. Wir lagern die Fässer bei uns manchmal noch Jahre, bevor wir unseren Alkohol und unser Flensburger Wasser hinzugeben. Die Mischung macht es dann. Aber das weißt du ja. Schließlich bringt dir jedes unserer Schiffe genügend Flaschen Hensen-Rum mit. Was meinst du, wie oft ich gefragt werde, warum er so einzigartig schmeckt. Ich sage dann immer: Familiengeheimnis! Es ist schön zu hören, dass du dich nun doch entschlossen hast, meine Großcousine in das Geschäft einzuführen. O weh! Ich muss Schluss machen. Das nächste Schiff nach Jamaika läuft gleich aus, und ich muss den Brief noch zur Poststelle bringen. Dein Rum ist schon an Bord. Und schicke ja viel Nachschub, denn wir kommen der enormen Nachfrage kaum hinterher. Hensen-Rum ist im gesamten Deutschen Reich beliebt. Seit unsere kleine preußische Provinz zu diesem Staat gehört, haben sich die Bestellungen um ein Vielfaches gesteigert. Und stell dir vor, ein Londoner Unternehmen hat angefragt, ob wir sie nicht beliefern könnten. Sie beziehen ihren fertigen Rum bislang von einem Unternehmen mit dem Namen Fuller. Die Qualität des Rums soll schlecht sein. Dieses Handelshaus hat seinen Sitz auch in Montego Bay. Vielleicht kennst du sie!
Grüß meine Cousine unbekannterweise
Deine Großnichte Gyde
Gedankenverloren legte Valerie den Brief auf dem Tisch ab. Wenn du wüsstest, liebe ferne Cousine, dass ich dir eine traurige Nachricht überbringen muss … Dann zwang sich Valerie, an das Geschäft zu denken. Sie musste unbedingt Mister Kilridge fragen, wann das nächste Schiff die Rückreise nach Flensburg antrat. Wenn sie es recht erinnerte, würden die nächsten Schiffe aus dem fernen Hafen überhaupt erst Anfang Februar in Montego Bay ankommen und Ende desselben Monats den Rückweg antreten. Die bange Frage war, was diese Schiffe an Fracht
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