Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
Rezeption riss sie aus ihren Gedanken. »Wie ich schon sagte: Zimmer 108!«
Valerie hob den Kopf und nahm den Schlüssel entgegen. Dann straffte sie die Schultern und stolzierte hoch erhobenen Hauptes, wie sie es von ihrer Großmutter gelernt hatte, auf die mit roten Teppichen ausgelegte Treppe nach oben zu. Nein, Richard Fuller, ging es ihr kämpferisch durch den Kopf, du bekommst unser Geheimnis nicht, und ich werde irgendwo auf der Insel eine verdammte Plantage auftreiben! Das hob ihre Laune wieder etwas, bis ihre Gedanken wieder zu James abschweiften. Ich muss endlich aufhören, ihn zu lieben, ermahnte sie sich streng.
23
Frederiksted, Saint Croix, Juni 1833
F ast ein Jahr lang habe ich mein Tagebuch nicht mehr angerührt, und doch erinnere ich mich an alles, was im August vergangenen Jahres geschehen ist, als wäre es gestern gewesen. Und ich fühle sie noch in jeder Pore: die Angst, Mister Sullivan könnte hinter mein Geheimnis gekommen sein und mich meinem Schwager ausliefern. Und die Verzweiflung darüber, dass das Meer Heinrich und mit ihm die Beweise meiner Unschuld für immer verschlungen hatte.
Ich traute mich am nächsten Tag kaum aus meinem Zimmer. Doch es nützte alles nicht. Ich musste meine Arbeit wie gewohnt erledigen. Wenn ich das Frühstück nicht machte, würde Mister Sullivan sicher nicht davor zurückscheuen, höchstpersönlich nach dem Rechten zu sehen. Nein, es gab kein Entkommen, es sei denn, ich flüchtete in die Berge und versteckte mich für den Rest des Lebens dort. Der Gedanke, dass mir keine Hoffnung mehr blieb, jemals in meine Heimat zurückzukehren, wollte mir schier das Herz zerreißen. Mit der Aussicht, dass der Aufenthalt auf Saint Croix ein vorübergehendes Abenteuer war, hatte ich gut leben können. Bei der Vorstellung, ich würde in dieser Erde begraben werden, schüttelte es mich.
Tief in meine Gedanken versponnen, machte ich mich an diesem Morgen auf den Weg zum Kochhaus. Erst als ich auf der Höhe des Mahoe-Baumes angekommen war, spürte ich, dass ich verfolgt wurde. Da es helllichter Tag war, zerbrach ich mir nicht weiter den Kopf darüber, sondern wandte mich einfach um. Ein paar Schritte hinter mir blieb Jakob Hensen wie angewurzelt stehen.
»Was wollen Sie von mir?«, schnauzte ich ihn an.
Er ließ sich von meiner unverblümten Schroffheit nicht abschrecken, sondern trat auf mich zu. »Ich will nicht drum herumreden. Woher kennen Sie Hauke Jessen?«
»Hauke Jessen?«, fragte ich mit gespielter Ahnungslosigkeit.
»Ja, genau! Und tun Sie nicht so erstaunt. Ich habe Augen im Kopf, und es war nicht zu übersehen, dass ihr euch kennt.«
»Tut mir leid. Ich kenne ihn aber nicht. Vielleicht fragen Sie ihn, ob er mich schon einmal gesehen hat. Sie wissen doch, wie das mit den Männern ist. Sie mustern Frauen auf der Straße mit einer Gründlichkeit, die umgekehrt als unschicklich gelten würde.« Mein Herz pochte wie wild, doch wenn ich glaubwürdig sein wollte, musste ich zum Angriff übergehen. »Fragen Sie ihn, und hören Sie auf, mich zu belästigen.«
Er brach in wieherndes Gelächter aus. »Ich dachte, Sie könnten mir verraten, wo sich der Kerl aufhält. In seinem Zimmer ist er nicht, und die hilfsbereite Haushälterin Misses Leyland könnte schwören, dass er sich heute Morgen mit Sack und Pack aus dem Haus geschlichen hat.«
Ich zuckte die Schultern und wollte mich abwenden, aber er hielt mich grob an beiden Armen fest. Seine Finger bohrten sich regelrecht in meine Haut.
»Au! Lassen Sie mich sofort los!«, befahl ich, aber er scherte sich nicht darum. Im Gegenteil, er packte nur noch fester zu.
»Und nun, meine Liebe, spuck sie aus, die Wahrheit!« Er kam mit seinem Gesicht so nahe an meines heran, dass ich seinen Atem riechen konnte, der alkoholgeschwängert war.
Ich hatte keine Chance, mich aus seiner Umklammerung zu lösen. Also versuchte ich es mit Diplomatie.
»Bitte, Mister Hensen, lassen Sie mich los. Mister Sullivan sieht es gar nicht gern, wenn man seine Angestellten von der Arbeit abhält …«
Er ließ mich los, als hätte er sich an mir verbrannt und starrte mich an wie einen Geist. »Potztausend! An dem Gerede der Alten ist also doch was dran!«, stieß er schließlich beinahe triumphierend aus.
»Ich weiß gar nicht, was Sie … ich meine, lassen Sie mich endlich in Ruhe …« Kaum hatte ich mein Gestammel unterbrochen, fiel es mir siedend heiß ein: Ich hatte in meiner Aufregung dänisch gesprochen, wie ich es früher manchmal mit
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