Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
aber von einer hässlichen Narbe, die quer über ihre Wange verlief, gezeichnet war.
»Sie sind also Anne?«, fragte sie und musterte mich wohlwollend.
Plötzlich fiel mir ein, was Jeremiah mir im dunklen Schuppen in Christiansted anvertraut hatte.
»Und Sie sind Jane, nicht wahr?«, gab ich zögernd zurück.
Sie nickte eifrig.
»Ich habe den Auftrag, Sie nach Hamilton-House zu holen«, erklärte sie ohne Umschweife.
»Wer hat Ihnen den Auftrag erteilt?«, fragte ich vorsichtig.
Sie lächelte geheimnisvoll und wandte sich an Paul. »Ob Sie uns einen Augenblick allein lassen könnten?« Der junge Arzt verließ murrend das Zimmer.
»Sie wissen, wo Jeremiah ist?«, fragte ich atemlos.
»Ja, er hat zunächst versucht, mit meinem Bruder vernünftig zu sprechen, aber der will ihn vor Gericht bringen, weil Jeremiah den Aufseher bei seiner Flucht damals niedergeschlagen hat. Mein Bruder behauptet, er wäre an den Folgen gestorben. Dabei war es der Suff. Arthur ist so verbohrt. Er will Jeremiahs Tod um jeden Preis …«
»Aber das verstehe ich nicht. Er ist doch sein Bruder!«, wandte ich ein.
»Das ist doch genau das Problem«, seufzte Jane. »Er leidet darunter, einen schwarzen Bruder zu haben.«
»Und wo ist Jeremiah nun?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, aber draußen bei uns, da kann er Sie leichter treffen. Da kennt er jeden Winkel. Und ich helfe Ihnen. Ich bewohne nämlich ein eigenes Haus auf dem Hamilton Anwesen.«
»Aber als was wollen Sie mich Ihrer Familie vorstellen, falls wir Ihnen dort begegnen?«
»Letzteres wird sich leider nicht vermeiden lassen. Heute Abend schon gibt es ein Essen, vor dem wir uns nicht drücken können. Sie sind Anne Sullivan, die Cousine einer Schulfreundin, aus Kingston«, lachte Jane.
Natürlich hatte das mehrere Vorteile: Ich würde Jeremiah wiedersehen und müsste mir keine Gedanken mehr um Paul Brown und die Frage machen, ob es wirklich gut war, dass wir unter einem Dach lebten. Dass der junge Doktor mehr in mir sah als einen Gast, konnte er kaum verbergen.
»Sie finden mich vor der Tür im Wagen«, sagte Jane, ohne meine Antwort abzuwarten. Sie ahnte wohl, dass ich mich bereits entschieden hatte, sie zu begleiten.
Kaum hatte Jane mein Zimmer verlassen, als Paul ohne zu klopfen eintrat. Er schien sehr aufgeregt und beschwor mich regelrecht zu bleiben, nachdem ich ihm in kurzen Sätzen berichtet hatte, was Jane mir angeboten hatte. »Anne, überlegen Sie sich das noch einmal. Als Frau allein haben Sie hier in Montego Bay keine guten Karten. Was wollen Sie auf Hamilton-House? Da werden Sie mit Ihrem Jeremiah erst recht nicht glücklich. Glauben sie mir! Ich will nichts sagen, aber man hört so allerhand. Er soll wegen Mordes gesucht werden.«
»Das sind doch alles nur Lügen, die Arthur Hamilton verbreitet!«, widersprach ich heftig.
»Arthur Hamilton ist einer der mächtigsten Männer in Montego Bay! Ich kann Sie nur anflehen, sich nicht in dessen Haus zu begeben. Bleiben Sie hier, und werden Sie meine Frau!«
Dieser Antrag rührte mich zutiefst, und ich warf ihm einen dankbaren Blick zu. Paul war rot geworden.
»Ich mag Sie wirklich, aber ich muss Jeremiah wiedersehen. Er ist meine große Liebe.«
Paul biss sich auf die Lippen. Er tat mir leid, aber ich konnte nicht anders, als ihm die unverblümte Wahrheit zu sagen.
»Seien Sie vorsichtig«, riet er mir traurig. »Nicht dass dieser Hamilton seinen Rachefeldzug auch noch gegen Sie richtet. Darum versprechen Sie mir eines: Zeigen Sie sich mit Jeremiah niemals in der Öffentlichkeit!«
»Danke!«, hauchte ich gerührt. »Sie sind ein wahrer Freund.«
Er lächelte schief. »Ein wahrer Freund? Wenigstens etwas! Aber Sie müssen mir schwören, dass Sie auf sich achtgeben!«
Ich schwor ihm, dass ich alles unterlassen würde, was mich in Gefahr brachte.
Dass dies lange nicht so einfach war, wie ich es mir vorgestellt hatte, bewies mein erster Abend in Hamilton-House. Einmal davon abgesehen, dass mir Arthur Hamilton schon auf den ersten Blick unsympathisch war mit seinen stechenden Augen und den schmalen Lippen, kostete es mich einige Überwindung, seine widerlichen Ansichten unwidersprochen über mich ergehen zu lassen. Ich hatte Jane schwören müssen, den Mund zu halten, um keinen Argwohn zu erregen. Er redete eine Menge unausgegorenes abstoßendes Zeug. So verfluchte er die Regierung in London, die das Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei beschlossen hatte. Er beschimpfte die Politiker als »Idioten« und
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