Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
jedoch, dass es gar nicht nötig war, denn der Vollmond beleuchtete den Park beinahe taghell. Ich eilte also weiter, bis die Ulmenallee anfing, die bis hinunter zur Straße führte. Ein Blick nach rechts brachte mir die Gewissheit. Die Bank unter dem Apfelbaum leuchtete im Mondlicht. Das würde kein Mensch je übersehen können. Ich bog also vom Weg ab und hockte mich unter den Baum. Wieder überfiel mich ein wehmütiges Gefühl. Wie oft hatte ich auf diesem Platz Schutz gesucht, wenn ich mich über meine Eltern geärgert hatte. Das leise und vertraute Plätschern des Wasserfalls verstärkte meine melancholische Anwandlung.
Seufzend zog ich den Brotkanten hervor und verzehrte ihn gierig. Das Kreischen einer Eule ließ mich zusammenzucken. Nicht dass ich abergläubisch war, aber trotzdem fiel mir sofort dieser Satz ein. Die Eule war’s, die schrie, der traur’ge Wächter, die grässlich gute Nacht wünscht … Das war einer meiner Sätze gewesen, die ich im Schultheater als Lady Macbeth gesprochen hatte. Ich atmete ein paarmal tief durch. Das Kreischen wurde lauter. Wenn Eulen so kreischten, dann drohte von irgendwoher Gefahr. Dazu brauchte ich gar nicht abergläubisch zu sein. Vorsichtig drehte ich mich um und ließ meinen Blick einmal rund um den Apfelbaum schweifen. Was, wenn die mondbeschienene Idylle beim Wasserfall trügerisch war?
So plötzlich, wie die Eule zu kreischen begonnen hatte, verstummte sie auch wieder. Erleichtert seufzte ich auf. Wie lange saß ich eigentlich schon hier? Es waren bestimmt schon fünfzehn Minuten.
Ein Beben durchlief meinen Körper bei dem Gedanken, dass sich mein Leben in weniger als dreißig Minuten für immer geändert haben würde. Wieder wurden Minuten zu Stunden, während ich unruhig auf der Bank hin und her rutschte.
Angespannt lauschte ich den Geräuschen. Da gab es den auffrischenden Wind, der sich in den Baumkronen verfing, das Zwitschern der Vögel im sommerlichen Park und dann … ich erstarrte: Ein Knacken von Ästen wurde laut. Ich hielt die Luft an. Sollte ich seinen Namen rufen? Womöglich irrte er durch das Gebüsch auf der Suche nach der Bank. Was jetzt hinter mir aus dem Busch hervorsprang, ließ mir förmlich den Atem gefrieren. Es war ein großes Tier! Bevor ich mich von meinem Schreck erholen und mir Gedanken machen konnte, um was für ein wildes Vieh es sich handelte, leckte es schon meine Hand. Und das ganz und gar nicht angriffslustig. Ich entspannte mich. Es war ein Jagdhund mit einem drahtigen hellen Fell, das jede Menge brauner Einsprenkelungen besaß. Die Schnauze war ganz braun, die Ohren hingen, und ich erkannte die Rasse. Es handelte sich um einen Altdänischen Vorsteherhund. Vater hatte auch einmal einen solchen Hund besessen, als er noch zur Jagd gegangen war. Eines Tages war der Hund nicht mit Vater von der Jagd zurückgekehrt. Er hatte behauptet, er wäre fortgelaufen, aber mir konnte er nichts vormachen: Ich wusste, was die Jäger mit ihren alten Hunden machten, die in ihren Augen zu nichts mehr taugten. Nicht nur, dass ich tagelang um ihn geweint hatte, nein, ich verweigerte auch das Fleisch, das Vater bei der Jagd erlegt hatte … Während ich den liebesbedürftigen Hund kraulte, fiel mir plötzlich ein, dass er ja auch einen Besitzer haben musste. Aber wen? Und wenn, dann war er in der Nähe. Hauke gehörte er bestimmt nicht.
Ich zog meine Hand weg, als hätte ich mich verbrannt. »Hau ab!«, flüsterte ich energisch. »Hau ab!« Der Hund aber machte keinerlei Anstalten. Er blieb vor mir sitzen und legte den Kopf schief. »Du sollst gehen!«, wiederholte ich. Erfolglos! Wahrscheinlich sollte ich nach ihm treten, aber das brachte ich nicht übers Herz. Stattdessen entschied ich mich dafür, ihn zu mir zu locken und so zu kraulen, dass er hoffentlich vergaß, sein Herrchen auf sich aufmerksam zu machen. Solange er nicht bellte, war alles gut.
Ich fuhr also fort, ihn zu streicheln. Inzwischen hatte er sich auf den Rücken geworfen und ließ sich unter dem Bauch kraulen. Unwillkürlich musste ich lächeln. Das verging mir aber in demselben Augenblick wieder, als mir meine innere Uhr sagte, dass es inzwischen längst Mitternacht war. Die Glocken von Sankt Nikolai gaben mir recht. Zwölf Mal schlug die Turmuhr. Dann war wieder alles still. Gespenstisch still, wie ich fand. Doch da erhob sich der Hund ganz plötzlich, schüttelte sich und verschwand im Gebüsch, als wollte er mir zeigen, dass er keinesfalls nur auf der Welt war, um sich
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