Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
genossen.
Noch einmal bewegte sie alle fünf Finger ihrer verstauchten Hand. Es tat nur noch an einer Stelle weh, dort, wo es blaugrün schillerte. Doch das bisschen Schmerz sollte sie nicht davon abhalten, in den Ort zu gehen und den Doktor aufzusuchen.
In der Diele begegnete ihr Grandma. Sie schien tief in Gedanken versunken. Als sie ihre Enkelin bemerkte, blieb sie allerdings stehen und musterte sie durchdringend.
»Wo willst du denn hin? Du gehörst auf dein Zimmer.«
»Meiner Hand geht es prächtig. Schau nur, wie ich sie schon wieder bewegen kann!« Valerie beugte und streckte demonstrativ ihre Finger.
»Aber sie ist doch noch ganz blau angelaufen. Sei vernünftig und schone dich!«, befahl die Großmutter in strengem Ton.
»Bitte schick mich nicht wie ein krankes Kind zu Bett. Ich halte es nicht aus, wenn ich so eingesperrt in meine vier Wände bin. Ich muss raus, die weiche, feuchte Luft auf meiner Haut spüren, den betörenden Duft von Jasmin einatmen …«
»Dann öffne dein Fenster und steck den Kopf hinaus«, erwiderte ihre Großmutter ungerührt.
»Grandma, nein! Ich vermisse Black Beauty und werde ihn mir jetzt holen!«
»Du willst reiten?«
»Ja, wonach sieht es denn sonst aus?«, gab Valerie zurück und deutete auf ihre Kleidung. Sie trug ihr Reiterkostüm.
»Weißt du, dass du ein eigenwilliges, unvernünftiges Menschenkind bist?«
»Ach ja?«, lachte Valerie. »Von wem ich das wohl habe?«
Hanne drohte ihr scherzend mit dem Finger.
»Wobei ich eher ein gehorsames Mädchen bin, wenn ich denke, was du einst für Pläne verfolgt hast, um deinen Willen zu bekommen.«
Hanne stutzte. »Was weißt du von meinen …« Sie unterbrach sich hastig. »Ach ja, das Tagebuch«, fügte sie leise hinzu. »Aber das nimm dir ja nicht zum Vorbild.«
»Solange du nicht Anstalten machst, mich mit unserem Nachbarn, dem Witwer Mister Evans, zu verkuppeln.«
Hanne verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Sehr gute Idee. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin. Er ist ein gut aussehender Mann, kultiviert, gebildet und wohlhabend.«
»Und dreifacher Großvater. Aber sag mal. Eine Frage hätte ich da noch zu deiner Geschichte.«
Hanne wurde schlagartig wieder ernst. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich erst darüber spreche, nachdem du alles gelesen hast!«, erwiderte sie in scharfem Ton.
»Ich wollte nur wissen, wie alt Pit Hensen damals gewesen ist«, sagte Valerie beinahe entschuldigend.
»Doppelt so alt wie ich. Sechsunddreißig. Aber bitte halte dich an unsere Abmachung. Ich stehe dir Rede und Antwort, sobald du meine ganze Geschichte kennst und meine …« Sie stockte.
»Deine Geheimnisse, ich weiß, ich weiß«, ergänzte Valerie.
»Warte, ich komme mit dir. Wir lassen uns die Kutsche vorfahren.«
»Das ist langweilig. Ich will reiten.«
»Ich würde mich aber sehr freuen, wenn du mich erst einmal auf die Plantage begleiten würdest.«
»Auf die Plantage?«, fragte Valerie erstaunt. Ihre Großmutter hatte sie noch niemals dorthin mitgenommen. Dem Angebot konnte sie nicht widerstehen. Sie folgte ihrer Großmutter nach draußen vor die Tür, wo die Kutsche bereits vorgefahren war. Es war die einzige geschlossene Kutsche auf der ganzen Insel. Alle anderen fuhren in offenen Wagen.
Als Valerie in das Innere der Kutsche stieg, wusste sie auch, warum. Es war schrecklich stickig unter dem schwarzen Dach. Kaum war sie eingestiegen, klebte ihr auch schon die Reitkleidung am Körper fest. Prüfend sah sie sich das Dach genauer an, bis ein Strahlen ihr Gesicht erhellte.
»Man kann das Dach öffnen, Grandma, was hältst du davon?«
»Ich will keinen Menschen sehen und auch nicht gesehen werden«, brummte ihre Großmutter.
»Dann musst du allein fahren. Hier fehlt einem ja die Luft zum Atmen.« Valerie machte Anstalten, die Kutsche zu verlassen.
»Schon gut«, schimpfte Grandma und rief nach Jerome. Als sie den schwarzen Kutscher bat, das Verdeck der Kutsche zu öffnen, glaubte er, sich verhört zu haben. Doch Valerie bekräftigte das Anliegen ihrer Großmutter.
»So lässt es sich leben«, seufzte Valerie, als sie schließlich im offenen Wagen die Palmenallee entlangfuhren, und lehnte sich zurück. Bei der Aussicht, dass Grandma ihr endlich einmal die Plantagen zeigen wollte, wurde sie zunehmend aufgeregter.
»Warum willst du mich ausgerechnet heute mitnehmen?«, fragte sie schließlich.
»Weil du, sobald du mein Tagebuch studiert hast, das Geschäft übernehmen wirst«, entgegnete
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