Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
Grandma wie nebenbei.
»Ich soll es bald übernehmen?« Valerie war fassungslos. »Aber was hat das mit dem Tagebuch zu tun?«
Grandma zuckte die Achseln. »Das wirst du dann schon selber sehen«, entgegnete sie.
Sie fuhren eine ganze Zeit lang schweigend durch die Landschaft. Ganz bis zum Ende der Bucht, an die sich nahtlos Zuckerrohrfelder anschlossen, soweit das Auge reichte.
»Welches ist denn unsere Plantage?«, fragte Valerie neugierig, als sie sich den Feldern näherten.
Hanne lächelte. »Alles, was dein Auge erblickt, gehört uns!«
»Aber … aber, das … ich meine, das ist ja richtig viel Land«, stammelte Valerie.
»Ich habe in den Jahren, seit ich auf Jamaika lebe, stets etwas hinzukaufen können.«
Die Plantage war durch ein Tor zu erreichen, vor der Grandma den Kutscher halten ließ.
»Warten Sie, Jerome, ich möchte meiner Enkelin nur die Plantage zeigen.«
Valerie sah sich staunend um. Wohin sie sah, kappten schwarze Männer mit Macheten das Zuckerrohr.
Als Grandma sich einem älteren Mann mit grauem Krauskopf näherte, richtete dieser sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Schön, Sie zu sehen«, begrüßte er sie sichtlich erfreut. »Und Sie auch: ihre Enkelin, nicht wahr?«
Valerie ergriff schüchtern die kräftige Pranke des Schwarzen. Sie hatte zunächst Mühe, ihn zu verstehen. Er sprach Englisch, aber anders, als sie es in der Schule gelernt hatte. Patwa, so hatte die Lehrerin im Unterricht stets behauptet, wäre der Untergang der englischen Sprache.
»Das ist Papa Jo, mein Vorarbeiter«, stellte Grandma Valerie den Mann vor. »Er müsste längst auf seiner Veranda hocken und seinen Ruhestand genießen, aber er will partout in der gleißenden Sonne schuften.«
Er lächelte breit. Eine Reihe perlweißer Zähne wurde sichtbar. »Ich würde eingehen, wenn ich nicht mehr ins Zuckerrohr könnte. Dann bin ich alt und zu nichts mehr nütze! Und außerdem traue ich dem Nachwuchs nicht.« Er deutete auf drei jüngere Männer, die ebenfalls dabei waren, das Zuckerrohr auf einen Karren zu verfrachten.
»Ihre Söhne, nicht wahr?«, fragte Grandma und winkte den Männern zu, die kurz einen Blick riskierten, bevor sie weiterarbeiteten.
»Misses Sullivan, das ist aber eine Überraschung«, rief nun eine erfreute Frauenstimme. Valerie sah in das propere Gesicht einer fülligen jungen schwarzen Frau, die ihr Haar unter einem bunten Kopftuch verborgen hatte.
»Lucy, was machen Sie denn auf den Feldern? Ich denke, Sie erwarten Ihr Kind!«, fragte Großmutter besorgt und fügte an Valerie gewandt hinzu: »Lucy ist Papa Jos Schwiegertochter. Sie bekommt ihr erstes Kind.«
»Kein Grund, den Männern kein Essen zu bringen«, lachte sie und reichte Papa Jo einen Korb.
Valerie kam aus dem Staunen nicht heraus. Bis eben hatte sie nicht einmal gewusst, wo sich die Plantage befand, und nun war sie mittendrin im bunten Leben. Und alle schienen Grandma zu mögen. Das war unübersehbar. Ob die Vorfahren von Papa Jo und Lucy Sklaven gewesen waren, fragte sich Valerie, gerade als Lucy begeistert ausrief: »Sie sind wunderschön, Miss Valerie!«
Woher kannte sie ihren Namen?
»Wir haben schon so viel von Ihnen gehört«, fuhr Lucy fort. »Aber Misses Sullivan hat nie gesagt, wie hübsch Sie sind. Die schönste junge Lady, die ich je gesehen habe.« Sie trat verschwörerisch einen Schritt auf Valerie zu. »Sie sind nicht so schrecklich bleich. Das gefällt mir.«
Valerie lächelte verunsichert. Die Anspielung auf ihre Hautfarbe missfiel ihr, ganz gleich, von wem sie kam. Grandma schien das zu bemerken, denn sie zog Valerie mit sich fort.
»Ich zeig ihr die Mühle«, rief sie Papa Jo zu.
»Wie viele Leute arbeiten denn hier?«, fragte Valerie.
Großmutter zuckte die Achseln. »Da musst du Mister Kilridge fragen.«
»Und wo wohnen deine Arbeiter?«
»Ich zeige dir ihre Häuser nachher. Sie leben auf der Plantage. Wo früher der Zuckerrohrbaron gehaust hat, von dem ich die Plantage erworben habe.«
»Und sind sie Nachfahren von echten Sklaven?«, entfuhr es Valerie neugierig.
»Fast alle Schwarzen oder Mulatten, die du auf der Insel siehst, sind Nachkommen von schwarzen Sklaven. Sie kommen in der Regel von der Küste Guineas.«
Valerie biss sich auf die Lippen, um nicht mit der Frage herauszuplatzen, ob das auch für ihre Herkunft gelte. Doch sie wusste, dass Großmutter ihr wieder einmal die Antwort schuldig bleiben würde.
»Sieh, das ist unsere Mühle«, erklärte Grandma
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