Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
gut. Er brauchte mich nicht daran zu erinnern, aber er hatte nicht die gekreuzten Finger hinter meinem Rücken gesehen, die diesen Schwur wieder aufhoben. Trotzdem war ich nicht gewillt, meine Notlüge im Angesicht meiner toten Mutter zu wiederholen.
Trotzig biss ich die Lippen aufeinander.
»Du bist ein selten stures Menschenkind«, brummte mein Vater und wandte sich wieder Mutter zu.
Ich aber hielt es nicht länger an ihrem Bett aus. Alle meine Skrupel hatten sich in Luft aufgelöst. Im Gegenteil, ich kochte vor Wut bei dem Gedanken, wie meine Eltern überhaupt so etwas von mir hatten verlangen können. Rasch erhob ich mich und gab Mutter einen letzten innigen Kuss auf die Stirn. Im Vorbeieilen tätschelte ich Vater über seinen immer noch dichten blonden Lockenkopf.
»Ich bin erschöpft. Ich muss schlafen«, raunte ich, doch dann fiel mir ein, dass noch niemand meine Schwester benachrichtigt hatte. »Aber vorher hole ich Lene und Heinrich«, fügte ich hinzu.
Vater schreckte auf und musterte mich verwirrt. »Wenn ich dich nicht hätte. Ich habe vergessen, nach ihr schicken zu lassen.«
Also eilte ich zum Holm und überbrachte meiner Schwester die traurige Nachricht. Wie erwartet, flossen ihre Tränen in Strömen. Ich konnte ihre Trauer kaum ertragen und wartete nicht auf die beiden, sondern rannte allein zurück nach Hause.
In der Diele traf ich Anna, die ebenso wie Vater verquollene Augen vom vielen Weinen hatte. Ich schärfte ihr ein, dass ich nicht gestört werden wolle. Ich müsse endlich schlafen. Unser Hausmädchen hatte vollstes Verständnis, denn offenbar sah man es mir an, wie viele Nächte ich in den letzten Wochen schlaflos an Mutters Bett verbracht hatte.
Ich war froh, als ich endlich allein in meinem Zimmer saß. Wehmütig sah ich mich um. Der Raum war groß und hell möbliert. Jedes Stück war von einem Tischlermeister extra für mich hergestellt worden. Es war Tropenholz aus Saint Croix. Seufzend musste ich zugeben, dass ich bis vor Kurzem das Leben einer Prinzessin geführt hatte. Ebenso wie die Form und Farbe der Möbel hatte ich mir auch alle Stoffe selbst ausgesucht. Keine meiner Freundinnen besaß ein solches kleines Schlosszimmer, obwohl sie fast alle zu den Töchtern der feinen Gesellschaft der Stadt zählten.
Plötzlich fiel mir Nele ein, und mir wurde erneut schwer ums Herz. Was würde sie sagen, wenn ich morgen einfach verschwunden wäre? Wir hatten uns doch immer alle Geheimnisse anvertraut. Ich kämpfte mit mir. Ob ich ihr einen kurzen Besuch abstatten sollte? Den Gedanken verwarf ich allerdings sofort wieder. Ich würde keine Gelegenheit haben, unbemerkt in ihr Haus zu gelangen. Schließlich lebte sie seit der Hochzeit mit ihrem Ehemann, dem Polizeidirektor, zusammen. Ich durfte bei ihr keinerlei Verständnis für meine Lage erwarten. Sie hatte ohne zu zögern einen älteren und in meinen Augen nicht einmal halb so attraktiven Mann wie den alten Hensen geheiratet. Es war nicht ausgeschlossen, dass sie mich »zu meinem Besten« sogar verraten würde. Nein, das durfte ich nicht riskieren. Genauso wenig, wie ich Lene gegenüber auch nur ein Wort verlauten lassen durfte.
Mir tat es jetzt leid, dass ich Mutter eben nicht wenigstens ein letztes Mal in den Arm genommen hatte, aber nun war es zu spät. Keine zehn Pferde brachten mich noch einmal zurück in das Totenzimmer, in dem Lene in diesem Augenblick wahrscheinlich in einem Meer aus Tränen schwamm.
Um die Zeit bis Mitternacht ohne weitere Zweifel an meinem Plan zu überstehen, versuchte ich, intensiv an Hauke Jessen zu denken. Als Erstes fiel mir sein Mund ein und wie weich sich seine Lippen auf meinen Wangen angefühlt hatten. Was ich mit einem Mal vermisste, war das Zittern meiner Knie. Daran, so hatten mir meine Freundinnen, die an den Früchten der Liebe gekostet hatten, versichert, erkenne man das Verliebtsein. Und daran, ob man beim ersten Kuss einer Ohnmacht nahe sei.
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Nein, zitternde Knie hatte ich nicht gehabt. Aber schließlich hat er mich ja auch noch nicht geküsst, dachte ich und fügte in Gedanken hinzu, dass ich erst mit ihm aufs Schiff gehen würde, nachdem er mich einmal geküsst hatte. Wenn ich mir vorstellte, ich würde erst im fernen Saint Croix merken, dass meine Knie nicht … Kaum auszudenken.
Um mich von der Grübelei abzulenken, holte ich ein kleines Holzköfferchen hervor, das meine Eltern mir einst für die Besuche bei Mutters Eltern in Kopenhagen geschenkt
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