Das Haus der bösen Mädchen: Roman
sie ihr Handy aus, falls Borodin zurückrief – sie konnte ja schlecht in Pnyrjas Gegenwart mit ihm reden.
Sie war noch nie bei dem alten Kriminellen zu Hause gewesen, kannte aber die Adresse und fand mühelos die hohe Betonmauer in der stillen, menschenleeren Gasse in der Nähe eines Parks. Das Tor öffnete sich. Warja sah eine weißblaue Villa im alt-englischen Stil vor sich. Der Wachmann nickte ihr düster zu und brachte sie ins Wohnzimmer. Pnyrja saß vorm brennenden Kamin. Sein Gesicht war grünlich, seine Augen gerötet – er sah aus wie aus dem Jenseits zurückgekehrt.
»Willst du was trinken?«, fragte er heiser.
»Nein danke.«
Sie setzte sich in den Sessel ihm gegenüber und blickte fragend in seine kranken, eingesunkenen Augen. Das Schweigen dauerte einige endlose Minuten; der alte Mann schaute Warja an, und sie bemühte sich, dem Blick standzuhalten, ohne zu zwinkern oder sich abzuwenden. Endlich senkte er die Lider, und Warja wagte sich umzusehen. Durch den Spalt zwischen den schweren dunkelblauen Vorhängen fiel ein goldenerStreifen, gerade und scharf wie eine Rasierklinge. Das Sonnenlicht ließ das Kaminfeuer durchsichtig wirken. In einem riesigen Aquarium lag in trübem grünem Wasser ein kleiner Baumstamm unter einer Borkenkruste oder dickem Schimmel. Mit leisem Entsetzen erkannte Warja, dass es ein lebendes Krokodil war. Direkt über Warjas Kopf lärmte etwas, und eine komische mechanische Stimme sagte: »Wo ist das Geld? R-rache!«
Auf einem Bücherschrank stand ein Käfig mit einem fetten bunten Papagei. Der Vogel musterte Warja aus seinen glänzenden runden Augen.
»Gena ist tot«, hauchte Pnyrja.
Warja versuchte vergebens, sich zu erinnern, wer dieser Gena war.
»Du musst nichts sagen, Mädchen«, sagte Pnyrja, krampfhaft schluchzend. »Bleib einfach bei mir. Vor dir kann ich weinen, vor Fremden darf ich das nicht. Gib mir deine Hand.«
»Auge um Auge!«, kreischte der Papagei und brach in ein unheimliches menschliches Gelächter aus. »Wo ist das Geld? R-rache, du Aas!«
Warja rückte ihren Sessel näher an seinen und streichelte Pnyrjas knotige, eiskalte Hand. Er drückte schwach die ihre.
»Pjotr kommt heute. Er wird den Kerl finden. Den nehm ich mir persönlich vor. Aber davon wird mir nicht leichter. Ich habe ihn geliebt wie einen Sohn.«
Warja stellte keine Fragen. Ihre Finger wurden unter dem Druck von Pnyrjas Hand taub, und eine seltsame, leblose Kälte breitete sich von dort über die Schulter im ganzen Körper aus. Es war heiß im Raum, aber sie fröstelte. Sie wäre am liebsten aufgesprungen und davongerannt, weit weg von dem Krokodil, dem Papagei mit dem menschlichen Lachen und von Pnyrja mit seinem eiskalten, leblosen Griff.
»Vielleicht solltest du ein wenig schlafen?«, fragte sie vorsichtig. »Wenn es mir schlecht geht, versuche ich zu schlafen.Hinterher ist alles weniger schlimm, und der Kopf ist wieder klar. Leg dich hier aufs Sofa, ich setz mich zu dir. Ich gehe nicht weg, ich bleibe, solange du mich brauchst.«
Er hob die Lider und drückte Warjas Hand so fest, dass es knackte. Langsam wandte er den Kopf und sah ihr in die Augen.
»Meinst du das auch ehrlich, Mädchen? Du musst mich doch hassen. Nach dem, was ich dir angetan habe.«
»Nein, Pnyrja. Derjenige, der mir etwas angetan hat, hat seine verdiente Strafe bekommen«, sagte sie langsam und fest. »Dir aber bin ich dankbar, fürs ganze Leben. Wärst du nicht gewesen, würde ich diesen Dreckskerl womöglich noch immer lieben.«
»Ich hab dich mit Malzew verkuppelt«, erwiderte Pnyrja. »Du hättest einen guten Mann heiraten und glücklich werden können.«
»Hör auf!« Warja lachte nervös auf. »Du hast dir meinetwegen nichts vorzuwerfen. Ich habe mich an Malzew gewöhnt, es ist alles bestens.«
»Du hast dich an ihn gewöhnt, sagst du?« Pnyrjas Tränen waren getrocknet, seine Augen in den schwarzen Höhlen glänzten trocken. »Schade. Du wirst dich bald wieder entwöhnen müssen.«
Ein leises, schweres Klatschen ertönte. Das Krokodil im Aquarium hatte sich bewegt, wandte seinen Kopf nun Warja zu und starrte sie aus trüben Augen an. Das scheußliche Maul mit den vielen Zähnen war geöffnet, der Schwanz schlug dumpf gegen die Glaswand.
»Was hast du denn, Kleiner?«, fragte sein Besitzer zärtlich. »Hunger? Warte noch, mein Freund, du darfst nicht zu dick werden, das ist nicht gut für dich. Der Koch sagt, du hast heute Morgen ein Kaninchen gefressen, also gedulde dich bis zum Abend, mein
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