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Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Titel: Das Haus der bösen Mädchen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Kindheit?«
    »Aber ja. Ich bin in dieser Wohnung geboren, und sie waren oft hier. Also, ganz von vorn: Es waren einmal drei Mädchen – Genja, Manja und Julia, Freundinnen von frühester Kindheit bis zum Tod. Genja war meine Mutter, Genrietta Lunz. Sie ist vor drei Jahren gestorben. Gehirnblutung. Manja war die Mutter von Lilja und Olga, und Julia, das war Julia Lastotschkina. Sie hatte keine Kinder, sie hatte überhaupt nichts außer ihrer Arbeit und dem Zimmer in diesem Wanzennest hier. Sie unterrichtete ihr Leben lang Französisch an einer Spezialschule und brachte die Sprache auch mir und den Mädchen bei. Heute kommt mir unser Leben damals vor wie ein Märchen. Sie hat für uns drei so wundervolle Kinderfeste ausgerichtet, das hilft mir bis heute überleben. Allerdings weiß ich nicht, ob es mir auch jetzt helfen wird. Wissen Sie, ich war hoffnungslos verliebt in Lilja. Jetzt heirate ich eine wunderbare, warmherzige, liebe Frau, aber irgendwie nur aus Trotz gegen Lilja. Und nun erfahre ich, dass sie tot ist.«
    So ist das also, dachte Kossizki, er hat sie geliebt. Leidenschaftlich und unglücklich.
    »Wann haben Sie Lilja das letzte Mal gesehen?«
    »Im Mai. Am fünfzehnten haben wir Julia beerdigt, danach war die Totenfeier in ihrer Schule. Anschließend kam Lilja mit hierher. Julias Sachen und Papiere mussten gesichtet werden, und das konnte niemand tun außer uns. Wir saßen die ganze Nacht daran, es waren sehr viele Briefe, alte Fotos und Glückwunschkarten. Es klingt herzlos, aber diese Nacht war eine der glücklichsten in meinem Leben. Warumsehen Sie mich so an?«, schrie er plötzlich. »Woran Sie denken, das ist nicht passiert, das kam gar nicht in Frage!«
    »Woher wissen Sie, woran ich denke?«, fragte Kossizki erstaunt.
    »Ich kenne doch die Menschen.« Ferdinand zündete sich erneut eine Zigarette an und schwieg eine Weile, stumpf vor sich hin blickend. »Ich habe Lilja sehr geliebt und nicht gewagt, sie zu berühren, wir haben uns nur alte Fotos angesehen und uns an unsere Kindheit erinnert. Gegen vier Uhr früh gingen wir in die Küche, Kaffee kochen. Lilja fror nach der schlaflosen Nacht und zog Olgas alte Strickjacke an. Einige von Olgas Sachen waren noch hier, Tante Julia bewahrte sie zur Erinnerung im Schrank auf. Ich kochte Kaffee, Lilja saß am Tisch, wir redeten über irgendwas, auf einmal verstummte sie mitten im Wort. Ich passte auf, dass der Kaffee nicht überkochte, und drehte mich nicht sofort um, sondern erst nach einer Weile. Ich weiß nicht, was passiert war, aber ihr Gesicht… Das werde ich nie vergessen. In ihren Augen spiegelte sich Entsetzen, sie schaute mich an und schien mich gar nicht zu sehen. Ich fragte natürlich, was los sei, aber sie antwortete nicht. Sie saß zusammengekrümmt da, in die Strickjacke gehüllt, die Hand auf die Tasche gepresst, und zitterte. Ich schenkte Kaffee ein, sie griff nach der Tasse, doch ihre Hand zitterte so, dass alles auf den Tisch floss. So sehr ich auch versuchte herauszufinden, was passiert war, sie sagte es mir nicht, nur ›entschuldige Fjodor, geh schlafen, ich muss eine Weile allein sein‹. Dann ging sie in das Zimmer von Tante Julia. Das ist alles. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen. Als ich am Morgen aufwachte und bei ihr anklopfte, war sie schon weg. Den Schlüssel hatte sie bei den Nachbarn abgegeben.«
    »Und danach haben Sie sie auch nicht mehr angerufen?«
    »Doch, natürlich.« Er wurde rot, holte krampfhaft Luft, und seine Stimme klang nun abgehackt und heiser.
    »Sie hat behauptet, es sei alles in Ordnung, und versprochen vorbeizukommen. Ich fragte noch einmal, was in der Nacht los gewesen sei, aber sie sagte nur: ›Nichts weiter, das war nur eine verzögerte Reaktion auf den Tod von Tante Julia.‹ Nach der Aufregung der Beerdigung sei ihr auf einmal klargeworden, dass Tante Julia nicht mehr ist. Klingt ganz glaubhaft. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt.«
    Ich glaube, du schwindelst auch, mein Lieber, dachte Kossizki und sagte freundlich: »Warum? So etwas kommt wirklich vor. Eine verzögerte Reaktion. Psychologisch durchaus verständlich.«
    »Mag sein. Aber nicht bei Lilja.« Er schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, sie war ein sehr praktischer Mensch. So heftig hätte sie höchstens auf etwas ganz Überraschendes reagiert, der Tod von Tante Julia aber war eine vollendete Tatsache. Lilja war eine Woche lang ständig im Krankenhaus gewesen und hatte sich um Julia gekümmert, sie war also

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