Das Haus der Feuerfrau (German Edition)
vor Augen
wie die Genesung eines Kranken
wie das Wandeln in einem Garten nach langer Krankheit.
Heute steht mir der Tod vor Augen
Wie der Duft von Myrrhe
Und wie die Freude, bei gutem Wind unter einem Segel zu sitzen.
Heute steht mir der Tod vor Augen
Wie der Lauf eines großen Stromes
Wie die Rückkehr eines Kriegers
Vom Schlachtfeld in sein heimatliches Haus.
Heute steht mir der Tod vor Augen
Wie das Vaterhaus, das ein Mann
Nach langer Gefangenschaft sich sehnt wiederzusehen.“
Als sie geendet hatte, machte sie mit zierlich erhobenem Rocksaum einen Knicks und kehrte an ihren Platz zurück. Alec erhob sich, auf seinen Stock mit der Elfenbeinkrücke gestützt. Mit feierlicher Stimme richtete er eine Einladung an alle Geister dieses Hauses und an alle Geister, die noch in unseren Leben spukten. Er bat sie, mit uns zu essen und zu trinken und sich an den Geschenken zu erfreuen, solange die Nacht andauerte, mit Anbruch des Morgens aber dorthin zurückzukehren, wo sie von Rechts wegen hingehörten. Dann setzte er sich, und wir begannen zu essen.
Das unruhige Dunkel, das bereits am Morgen geherrscht hatte, hatte sich im Lauf des Tages immer weiter verstärkt. In der Diele war es so finster geworden, dass wir die Kerzen brauchten, um überhaupt zu sehen, was wir aßen. Gelegentlich flammte der unheimliche Schein des Wetterleuchtens auf und tauchte den improvisierten Speisesaal in zitterndes Licht.
Ich saß zwischen Alec und Robert und spürte, wie unruhig sie unter ihrem beherrschten Äußeren waren. Wir alle waren angespannt. Es ist keine Kleinigkeit, Gespenster zu Gast zu bitten, und hätten wir es nicht mit Ernst und Ehrfurcht getan, so hätte ich große Angst gehabt. So aber hatten sie keinen Grund, uns übel zu wollen. Selbst die Unfreundlichen und Bösartigen unter ihnen waren – soweit meinte ich die Regeln der jenseitigen Welt zu kennen – durch ihre eigenen Gesetze daran gebunden, uns kein Leid anzutun. Aber natürlich saßen wir dennoch wie auf Nadeln. Immer wieder ertappte ich einen oder eine von uns, wie er oder sie in die schattenverhangenen Ecken der Diele spähte, vor allem in den dunklen Winkel nahe der Hintertüre, wo sich einst das Herz der Finsternis befunden hatte.
Dann spürte ich die erste Gegenwart.
Ein kühler Lufthauch wehte an mir vorbei, ein dünner, kalter Strich Luft, bei dem es mir über den Rücken schauderte. Unbehagen ergriff mich. Der Lufthauch hatte etwas Bedrohliches an sich gehabt wie die plötzliche Kälte, die einen Fiebernden anweht und ihm den nahen Tod verkündet. Es war zweifelsohne keine gute Gegenwart, die da aus ihrer eigenen Sphäre in die unsere trat. Ich spürte, dass auch Robert fröstelte und, den Löffel auf halber Höhe über dem Teller, in der Bewegung stockte. Er sah mich an, dann zuckte er die Achseln und wandte sich entschlossen wieder seinem Essen zu. Nachdem wir die Unsichtbaren so ausdrücklich eingeladen hatten, mussten wir es wohl oder übel akzeptieren, dass sie kamen!
Wenig später fühlte ich einen zweiten Lufthauch, und dann war die Diele von wirbelnden Luftströmen erfüllt, die in rastloser Betriebsamkeit durcheinanderwogten. Manche wehten aus dem oberen Stockwerk herab, manche schienen aus dem Boden zu steigen, wieder andere hauchten zur Türe herein. Einige waren sehr kalt, andere wärmer, manche brachten unangenehme Gerüche mit sich wie Äther, Formaldehyd oder feuchte Erde, während andere nach längst aus der Mode gekommenen Parfüms dufteten.
Sehen ließen sie sich nicht. Der einzige optische Eindruck, den wir von ihnen bekamen, waren irrwisch-ähnliche blaue Flämmchen, die auf dem Boden und den gedeckten Tischen hin und her huschten. Ich erinnerte mich an den Glauben, dass Götter, Geister und Gespenster sich von der unsichtbaren Substanz der ihnen dargebrachten Opfergaben ernähren, und fand ihn bestätigt. Die Feuerzünglein ließen sich da und dort auf einer der Gaben nieder, flammten in bläulich gasigem Licht auf, und wenn sie sich wieder erhoben, waren die Brote oder die Blumen oder die Süßigkeiten, die sie berührt hatten, grau und vertrocknet.
Plötzlich fühlte ich inmitten all dieses Huschens und Flackerns die vertraute Gegenwart „meines“ Mädchens. Von der Seite schob sich etwas an mich heran, eine Hand drängte sich in die meine und zog daran, so schwach, als versuchte ein Schmetterling mich zu ziehen. Deutlicher spürbar als die spinnwebzarte Berührung war der Wille des Kindes. Es verlangte etwas von mir,
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