Das Haus der glücklichen Alten
Fernando Pessoa, das ist doch irre, verstehen Sie? Mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Was erzählen Sie denn da?, erwiderte ich kurz darauf. Ohne Quatsch, der Mann ist der unmetaphysische Esteves aus Pessoas Tabakladen. Ich wollte ihm nicht glauben, reden Sie doch keinen Stuss, der Mann müsste ja fast hundert sein. He, Esteves, he, komm mal her, rief Senhor Pereira ganz aufgeregt. Esteves war energiegeladen ins Gespräch vertieft und reagierte nicht. Senhor Pereira sagte, glaub mir, er ist es. Er wird bestimmt hundert. Sie haben ja schon gesehen, wie gut er noch auf den Beinen ist. Unglaublich, ein Mythos unserer Dichtung. Da riss sich Esteves von dem Gespräch los, kam zu uns und fragte, was wir denn wollten von ihm. Senhor Pereira bat ihn, sich zu uns zu setzen, und forderte ihn vergnügt auf, Esteves, he, erzähl mal Senhor Silva, wie das kam, dass du in einem Gedicht von Pessoa vorkommst. Der Mann machte große Augen, lachte und antwortete, die Geschichte kennen doch alle schon, hab ich tausendmal erzählt. Senhor Pereira blieb hartnäckig, aber Senhor Silva nicht, er will mir nicht glauben, lass mich nicht als Lügner dastehen. So ein Quatsch, sagte ich, das Heim hier ist voller alter Spinner. Ich rutschte auf die Stuhlkante, um mir den flotten Greis von Nahem anzugucken. Meine Augen saugten sich regelrecht fest an ihm, und er bestätigte mir, ja, es ist wahr. Ich habe damals in Lissabon gelebt und bin immer in den Tabakladen gegangen. Das stimmt, ja. Meine Ohren verfielen ganz dieser unergründlichen Stimme, und ich sah nur noch dieses eine Gesicht. Das Gesicht eines Mannes, der fünfzehn Jahre älter war als ich. Lächelnd, freimütig und reinen Herzens in derselben Sonne, die uns beschien, und es war so, als wäre vor mir der wunderbare, geniale und fesche Fernando Pessoa leibhaftig wiederauferstanden, es war, als hätte ein Gedicht feste Gestalt angenommen und wäre ans Tageslicht getreten, um mich anzurühren im Alltäglichen, das schließlich zu einem großen Zauber wird, den wir noch grade ertragen. Es war, als käme Alice aus dem Wunderland und erzählte uns, wie die sprechenden Kaninchen leben und was es mit den Abenteuern des So-tun-als-ob auf sich hat. Ich hörte ihn noch einmal sagen, dabei habe ich viel Metaphysik! Dass die Dichter uns die Seele rauben, ist nicht anständig, die Gedichte sind nämlich voller Lügen. Ich lächelte. Ich lächelte von Herzen wie nie zuvor in diesem Haus. Senhor Pereira sah mich strahlend an und versicherte triumphierend, ja, das ist jetzt hier das Haus der glücklichen Alten.
Haus der glücklichen Alten, so heißt das Schlachthaus, in das man mich eingeliefert hatte. Was für ein sarkastischer Name, der Gedanke ließ mich nicht mehr los. In diesem Haus waren der unmetaphysische Esteves, zufrieden mit so echtem Gefühl, und Senhor Pereira, in dem ich einen wirklichen Freund erblickte, und ich, der ich glaubte, dass ich gleich einen Anfall von irgendwas kriegen würde, nun auch noch diese Überraschung, das war zu viel für mich. Es war eine Neuigkeit, die mir gerade in meinem todesnahen Zustand eine unerwartete, radikale Lebensenergie zuführte. Donnerwetter, dass man als Mann von vierundachtzig Jahren noch so von etwas überwältigt werden kann und dass man dann ganz ungläubig dasteht, als würde man wieder zum Kind werden und würde über ein Eis am Stiel staunen. Ich bat noch einmal, Menschenskind, machen Sie mir nichts vor, sagen Sie mir die Wahrheit, Sie haben wirklich Fernando Pessoa gekannt? Er antwortete, es ist, wie ich sage, Senhor Silva, Ehrenwort, ich kannte ihn. Damals war ich ein junger Spund und hatte überhaupt keine Ahnung, dass aus diesem Mann unser großer Dichter werden würde. So was kommt vor im Leben. Du ahnst von nichts, und prompt steckst du in einer großen Geschichte. Na ja, oder einem großen Gedicht, das erzählt schließlich auch eine Geschichte, oder? Ich nickte und rutschte wieder nach hinten, denn die kleinen Feuerbrände hatten sich über meinen ganzen Körper ausgebreitet. Ich war so verwirrt, dass ich gar nicht mehr zuhörte, wie Senhor Pereira sich rühmte und mich verspottete, weil ich erst nach dreiundzwanzig Tagen bei den glücklichen Alten gemerkt hatte, dass wir mit einem Mythos der portugiesischen Dichtung unter einem Dach lebten.
Américo kam zu uns. Er beugte sich zu mir herab und raunte mir zu, in Doktor Bernardos Sprechzimmer sitzt Ihre Tochter und weint. Sie ist allein, Senhor Silva, sie vermag nicht, nach
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