Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
erschienen, das Charlotte erschreckte und erstarren ließ. Es war Adele Sutherland, die ihr direkt ins Gesicht sah – zumindest kam es Charlotte so vor – und erklärte: »Wir haben eine Einladung zur Eröffnung der Opernsaison bekommen, Jonathan. Für die königliche Loge. Bitte sag mir, daß du hier sein wirst. Es bedeutet mir so viel.«
Charlotte hatte dagesessen wie angewurzelt. Zum ersten Mal sah und hörte sie die Frau, die es geschafft hatte, Jonathan einzufangen, nachdem er Charlotte auf dem Umweg eines Gedichtes mitgeteilt hatte, er müsse seinen Weg allein gehen. Sie studierte das Gesicht und suchte nach Merkmalen des Bösen. All die Jahre über hatte sie sich diese Frau als Hexe vorgestellt. Sie wußte, daß Adele die Tochter eines Lords war und einen eigenen Titel besaß: »Hon.«. Das hieß »The Honourable«. Die Ehrenwerte. Sie hatte sich scharfe, gemeißelte Züge vorgestellt, eine aristokratische Nase und hochgewölbte Brauen. Doch ihre Gesichtszüge waren zwar vielleicht aristokratisch, auf keinen Fall aber scharf: ein hübsches Gesicht, rund und warm, umrahmt von einer Wolke weicher, brauner Haare. Auch ihre Stimme war weich, als sie sagte: »Hallo, Johnny. Ich frage mich, wo du wohl steckst.«
Das war das Schlimmste, daß er eine sympathische Frau geheiratet hatte.
Eine Einladung in die Oper, dachte sie. Die königliche Loge. Jonathan ging mit dem Königshaus in die Oper!
Wir leben wirklich in verschiedenen Welten.
Blindlings griff sie nach der Teetasse und zwang sich, den beruhigenden Duft einzuatmen, während sie um Gleichgewicht und Harmonie rang und zugleich versuchte, die Tränen zurückzudrängen. Die Brust wurde ihr eng vom unterdrückten Schluchzen. Sie legte die Hand auf die Seidenbluse und fühlte den silbernen Anhänger mit dem Bernsteintropfen. Dabei fiel ihr der Tag ein, an dem sie mit Jonathan zu Wallgreen auf der Powell Street gegangen war. Sie hatten sich in die kleine Fotokabine gesetzt und kleine Streifen mit schwarzweißen Automatenbildern von sich gemacht, Charlotte auf Johnnys Schoß, seine Arme um ihre Taille. Später hatte sie auf ihrem Bett gelegen und noch einmal das Gefühl seines Körpers so nah an ihrem erlebt, als sie auf seinem Schoß hin und her gerutscht war, bis sie etwas Hartes fühlte, bei dem sie kichern mußte und Johnny rot wurde. Sie hatte das beste Bild genommen, die beiden Gesichter ausgeschnitten und so in die beiden Hälften des Medaillons gesteckt, daß sie einander anschauten. Wenn sie es schloß, küßten Johnny und sie sich in alle Ewigkeit.
Ach, Jonathan, rief ihr gebrochenes Herz. Weiß Adele von deiner Zeit als Computerhacker? Weiß sie, daß man dich mehrfach verhaftet hat, weil du für Tausende von Dollars illegal telefoniert hast? Hast du ihr von den Nächten und Tagen erzählt, in denen wir uns ewige Treue geschworen haben? Jonathan!, hätte sie am liebsten laut geschrien. Das ist nicht fair! Adele und du, ihr habt keine gemeinsame Geschichte!
Warum hast du sie genommen und nicht mich?
Immer noch stieg der Teedampf auf, drang in ihre Nase, entfaltete langsam seinen heilenden Zauber. Charlotte fühlte sich ausgelaugt. Sie brauchte Schlaf. Morgen würde sie ihre Gefühle unter Kontrolle bringen und mit der schmerzlichen Arbeit beginnen, die Mauern um ihr Herz von neuem aufzurichten und Jonathan in die kleine Kammer zurückzuverbannen, in der sie ihn die letzten zehn Jahre versteckt gehalten hatte. Sie würde ihn und alle Erinnerungen wieder einmotten und weiterhin ihr eigenes Leben leben.
Sie führte die zerbrechliche Porzellantasse an die Lippen.
Morgen würde sie sich auch nach einem neuen Haus für Naomi umsehen und damit anfangen, ihr Unternehmen zu reparieren. Sie würde sich mit Adrian, Margo und Desmond zusammensetzen …
»Trink diesen Tee nicht.«
Charlotte schnappte nach Luft. Die Tasse entglitt ihren Fingern und zerschellte auf der Theke.
Sie fuhr herum. »Wer ist da?« Sie lauschte, vernahm aber nur das gedämpfte Rauschen des Regens um das Haus.
»Der Tee ist vergiftet.«
Auf dem Überwachungsmonitor sah man nur den verregneten Parkplatz. Sie rannte ins Museum und schaltete alle Lampen ein. Aber sie erblickte nur stumme Glaskästen voller verstaubter Erinnerungsstücke.
Wer hatte gesprochen?
Sie lief wieder zurück ins Büro, ergriff die Teeschachtel, setzte sich an den Computer und gab die auf der Verpackung aufgedruckte Produktionsnummer ein, um sie mit dem Produktionsprotokoll zu vergleichen. Sechzig Sekunden
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